Ein amerikanisches Epos

John Irving - "Letzte Nacht in Twisted River"

von Jürgen Kasten
Ein amerikanisches Epos
 
„Er hatte das Gefühl, daß das große Abenteuer seines Lebens erst begann – so mußte sich sein Vater gefühlt haben, in den Nöten und Qualen seiner letzten Nacht in Twisted River.“
Das ist der Schlußsatz des 736 Seiten langen neuen Romans von John Irving. Ein ungefähres Erzählgerüst hatte er bereits im Kopf, doch Irving braucht zunächst den perfekten letzten Satz, bevor er seine Geschichten darauf aufbauend entwickeln kann. Eingefallen sei er ihm im Auto. Bob Dylan sang gerade sein „Tangled Up In The Blue“.
 
Twisted River - ein Flößer- und Holzfällercamp in den Wäldern von New Hampshire im Jahre 1954.Ein trostloses Kaff im Nirgendwo mit Wohnwagen und Holzhütten, einem ständig besoffenen brutalen Dorfsheriff und einer Kantine, deren exquisite Küche das Beste bot, was weit und breit zu kriegen war. Dominic bekocht die wilde Horde der dort lebenden Arbeiter und ihre Familien. Er war selbst Holzfäller, bis er nach einem Unfall einen verkrüppelten Fuß zurückbehielt. Ein anderer Unfall nahm ihm seine geliebte Frau. Sie mußte er sich mit seinem Freund Ketchum teilen. „Beide oder keiner“, stellte sie Dominic vor die Wahl. Nun hat er nur noch seinen 12-jährigen Sohn Danny und natürlich Ketchum. Eine tragische Verwechselung zwingt den Koch und Danny in eine Flucht, die beide quer durch die Staaten bis nach Kanada treibt. Cookie, so nennt Ketchum den Freund, arbeitet in Restaurants, eröffnet selber welche, zieht weiter, wechselt mehrmals den Namen und fühlt sich zu dicken, aber aparten Frauen hingezogen. Ansonsten sieht er zu, daß aus seinem Sohn etwas Anständiges wird. Danny wird Schriftsteller, hat mit seinen Frauen genau so wenig Glück, wie der Vater. Und auch Dannys späterem Sohn ergeht es nicht besser.
 
John Irving erzählt ihre rastlose, tragische Geschichte über mehrere Generationen bis ins Jahr 2005. Sie handelt vom Holzflößen, Kochen, Ankommen, Abschied nehmen, Liebe, Tod und Verrat. Der historische Bogen reicht vom Vietnam-  bis zum Irakkrieg und zeigt die zerrissene amerikanische Gesellschaft auf. Der wahre Held dieser Geschichte ist jedoch Ketchum, ein Urgetüm, ein Analphabet. In seiner Schlichtheit und Direktheit meistert er jede Lebenslage, weiß immer einen Rat. Seine fast philosophischen Weisheiten begleiten Cookie und Danny ihr Leben lang.
Irvings Sprache ist wuchtig. Wortgewaltig malt er Szenen und Charaktere aus. Doch Irving hat schon Besseres geschrieben. Zu verwirrend die ständigen Zeitsprünge von der Gegenwart in die Zukunft, in die Vergangenheit und zurück. Irritierend die mehrmaligen Namenswechsel der Protagonisten und ihrer kompliziert verbandelten Verwandtschaft.
 
Bei allem sprachlichen Witz, Ironie, Bissigkeit und elegantem Wortgebrauch – dieses Buch ist schwer verdaulich. Im September wird John Irving in Deutschland auf einer Lesereise sein.
Beispielbild

John Irving
Letzte Nacht in Twisted River
 
Roman
 
© 2010 Diogenes Verlag AG Zürich
736 Seiten, Ganzleinen, Schutzumschlag
ISBN: 978-3-257-06747-7
€ 26,90 (D), € 27,70 (A), sFr 47,90 (CH)
 
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