Vom Geist mit Uhrkette

oder vom Nutzen der Güte

von Bernd Jungheinrich

Foto © Frank Becker
Vom Geist mit Uhrkette
oder vom Nutzen der Güte
 

Heute kann man alles berechnen, nach seinem Nutzen skalieren und im Doppelblindversuch nachweisen. Ich war einmal in einer Firma, die war nach solchen Grundsätzen entworfen worden, sie stand in einer kargen, steppenartigen Landschaft, erbaut aus Glas und Stahl.
 
Ich begann meine Arbeit in meinem Büro an einem heißen Sommertag. Der Geschäftsführer, der nach seiner Qualifikation beim Diplom von einer Personalberatungsfirma ausgesucht worden war, führte mich im Betrieb herum und machte mich bekannt. Die Leute blickten mich neugierig an wandten sich aber rasch wieder ihrer Arbeit zu. In der Werkshalle dröhnten die Hammerschläge auf Stahl, im Konstruktionsbüro standen die Zeichner an den Zeichenbrettern – alles schien perfekt zu funktionieren. Sogar die Bleistifte auf meinem Schreibtisch waren gespitzt.
 
Kurzum, nach zwei Jahren wurde die Firma dennoch aufgelöst. Sie hatte mit normaler Rendite gearbeitet, aber es war kein Wachstumsimpuls zu erahnen. Auf der Führungsebene waren routinierte Leute angeworben worden, aber vielleicht waren es zu viele und vielleicht waren sie auch zu teuer. Es entstanden keine neuen Produkte. Den Kunden waren wir ziemlich egal, es gab genug Wettbewerber. Man wurde auch leicht entlassen, wenn man nicht die Vorstellungen des Geschäftsführers erfüllte. Wer ging und wieder einen Unterschlupf gefunden hatte, dachte nicht gern an diese Zeit zurück. Auch ich erinnerte mich nicht gern.
 
Irgendwann lernte ich eine andere Firma kennen, ich sage nicht, was sie herstellte und wo im Sauerland ihr Sitz war, aber sie hat bereits ihr hundertjähriges Jubiläum hinter sich. Sie beschäftigt nur einige Hundert Leute. Ich sage auch nicht, daß sie von Engeln betrieben wurde, die etwa kein eigenes Bankkonto hatten.
 
Nein, sie gehört seit Generationen einer Familie, die ziemlich reich ist. Ich denke, die Besitzer blieben meistens mit anderen reichen Leuten unter sich, und sie hatten gern Umgang mit Leuten, die gleiche Interessen hatten und einander nützlich sein konnten. Doch sie waren auch Mitglieder in Kunstvereinen, und manchmal förderten sie Gemeinnütziges.
Und doch war alles anders.
 
Die Geschäftsführer, Betriebsleiter, Abteilungsleiter, fast alle hatten in der Firma als Lehrlinge angefangen. Väter schickten ihre Töchter und Söhne hier in die Lehre. Ein Prokurist unterschlug einen Betrag, wurde aber trotzdem nicht entlassen, sondern nur eine Ebene tiefer an einen anderen Arbeitsplatz versetzt. Paare lernten einander kennen, heirateten und arbeiteten weiter in der Firma. Der Chef gründete mit seinen Arbeitern einen Firmenturnverein. Später wurde auch ab und zu ein Akademiker eingestellt, aber bis auf eine Ausnahme fing jeder als Sachbearbeiter an und unterschied sich bald nicht mehr von dem Sohn der Putzfrau des Chefs, der seinen Schreibtisch neben ihm hatte. Bei Jubiläen und Festen waren nicht nur die Mitarbeiter und Vertreter anwesend, sondern auch viele Kunden. Mit ihnen entstand manche Freundschaft. Manche, sie waren weiß, braun oder schwarz, übernachteten nicht im Hotel, sondern im Haus ihrer zuständigen Sachbearbeiter, kamen wieder, brachten Frau und Kinderschar mit und hatten eine fröhliche Zeit.
Ich weiß von einer Angestellten, die konnte am besten Kaffee kochen. Das tat sie gerne, und sie versorgte Kollegen und Vorgesetzte mehrmals am Tage damit. Wenn sie etwas mit der Hand schrieb, erschienen große, ungelenke Buchstaben wie in Sütterlinschrift. Ich behaupte nicht, daß sie nicht arbeitete und zu nichts nütze war. Solange man ihr genau sagte, was sie zu tun hatte, tat sie es auch. Aber ihr Herz war beim Versorgen und beim Anteilnehmen, an Liebesangelegenheiten, Krankheiten, Todesfällen und Einkäufen. Sie litt mit den Traurigen und freute sich mit den Fröhlichen. Einkaufen tat sie übrigens am liebsten. Natürlich nach Feierabend, aber die Vorgespräche wurden dennoch in der Firma geführt.
 
Es gab Zeiten, da wurde von der Personalabteilung kritisch nach ihr gefragt. Personal sollte reduziert werden. Aber kein Vorgesetzter drehte den Daumen nach unten, einer zwinkerte dem anderen zu, vom Abteilungsleiter über den Bereichsleiter bis hinauf zum Personalleiter. In ihrer Abteilung herrschte ein besonders starkes Familiengefühl. Und sie blieb bis zu ihrer Pensionierung..
 
Ein Geist ging in dieser Firma um. Vor hundert Jahren hatte eine Uhrkette auf seiner Weste gebaumelt, er rauchte mit den Prokuristen dicke Zigarren und leerte abends gerne ein Gläschen „Piepensewer“ beim Kartenspiel mit ihnen. Später wurde der Geist schlanker und trug Anzüge ohne Weste, aber es dauerte lange, ehe der erste unter den Prokuristen ein Auto hatte. Wenn denn gefahren werden mußte, besorgte das die Fahrbereitschaft. Erst Ende des letzten Jahrhunderts gab es Prokuristen, die einen Führerschein besaßen.
 
Der Geist bemerkte zu seinem Schmerz, daß die Zahl der Wettbewerber wuchs, und daß die Rendite immer knapper wurde. Leute, die in Pension gingen, wurden nicht mehr ersetzt, Neue wurden nicht eingestellt.
 
Aber in den Räumen ging immer noch derselbe Geist umher, und außer ihm noch die Geister der Mitarbeiter, die im Krieg gefallen waren oder die inzwischen gestorben waren. Sie waren nicht vergessen und vor allem machten sie sich bemerkbar. Mancher Angestellte berief sich sogar auf den einen oder anderen Geist, wenn er sich zu rechtfertigen hatte oder seine Maßnahme begründete. Die Kunden blieben der Firma treu, solange die Produkte noch gebraucht wurden; und alle kamen sie zu den Jubiläumsfeiern, Kunden und alte Mitarbeiter, auch wenn sie schon seit zwanzig Jahren pensioniert waren. Und sie schlurften hinter den Särgen her.
 
Solche Augenblicke waren ein bißchen traurig, aber vor allem waren sie unheimlich. Das fühlten die Trauergäste vielleicht, aber vielleicht wußten sie dennoch nicht, daß wir in einer Welt der Geister leben. Dabei stürzte doch das Licht auf die Friedhofs-Landschaft, das Licht, zu dem ein Zahlenmensch aus dem Rechnungsposten einmal etwas gesagt hatte, ein kleiner Mann mit glatten, roten Wangen und blitzenden Brillengläsern, er hatte gesagt: „Licht ist auch etwas Geistiges.“
Das war doch merkwürdig, nicht wahr. Es gab viele merkwürdige Leute in der Firma und wenn man genau hinsah, waren sie sogar alle merkwürdig.
 
Wer sich über den Mann aus dem Rechnungsposten wundert, der soll sich fragen, ob dies etwa keine Geisterwelt ist, in der zwei Hände mit hörbarem Aufsetzen einen Stapel Papier bündig stoßen, ein Faxgerät gemächlich Papier absondert, eine dampfende Kaffeetasse, waagerecht wie eine Reliquie, durch den Raum getragen wird; ein Gesicht wendet sich dir zu und ein Blick trifft dich – und einen trägen Wimpernschlag des Universums später ist alles verschwunden. Nur ein unbeweglicher Mann, der täglich von Pflegern von einer Seite auf die andere gedreht wird, hat eine nebelige Erinnerung daran. Er wartet auf den entsetzlichen Augenblick, wo selbst die Stille aufhört, still zu sein. Wo bliebe er da, wenn es nicht die Geisterwelt gäbe?
 
Wie es in der Firma weitergehen wird? Niemand kann Ewigkeit beanspruchen. Aber der Geist mit Uhrkette wird die vergangene Zeit hoffentlich aufbewahren; die Zeit der nüchternen Zusammengehörigkeit, die langsam beginnt wie Liebe auszusehen.
 


© Bernd Jungheinrich - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010