Bauer Unterrieser

Eine Café-Geschichte

von Karl Otto Mühl
Bauer Unterrieser


Ein langer Vormittagskaffee im Stehcafé. Ich sitze auf dem Gehsteig im Schatten. Freunde tauchen nicht auf, aber bekannte Gesichter. Der Bauer Unterrieser, den seine Frau vor 21 Jahren verlassen hat. Sie bekommt dennoch seine halbe Rente.
 
Er weiß nicht, warum sie ging. Wahrscheinlich Liebe. Die Kinder blieben bei ihm. Mit ihrem neuen Liebhaber eröffnete sie eine Pommes-Bude, aber die ging ein. Heute sind sie bettelarm.
Seine neue Frau ist achtundzwanzig Jahre jünger. Das macht keine Probleme, sie soll treu wir Gold sein, arbeitet noch in einer Fabrik. Sie haben noch zwei Kinder bekommen. Die, so wie anderen zwei, wohlgeraten sind.
 
Ich kenne viele solcher Katastrophen. Niemand scheint dagegen gefeit zu sein.
Ob es religiös Gefestigten besser ergeht? Sie werden es glauben. Bis auf die Bischöfin, von der wir lasen. Schon sieht es anders aus.
 
Eine Kollegin ist über 40 Jahre verheiratet, der Mann Beamter, sie arbeitet in Teilzeit., zusammen haben sie einen verheirateten Sohn, der vor einigen Monaten knapp an einer Scheidung vorbei schrammte.
Kürzlich kam sie mit leerem Blick ins Büro: Ihr Mann, leidenschaftlicher Taubenzüchter, habe sie verlassen. Wenn er nicht einen Ställen werkelt, dann ist er mit den Tauben unterwegs. Das Wichtigste sind für ihn Ausstellungen und  Flugwettbewerbe. Und da, mitten unter den Tauben, da hat er eine andere Züchterin kennengelernt. Wenn auch nicht gezielt zum Zwecke des Züchtens, so doch wohl aus dem Wunsch nach Nähe jeder Art. Seitdem hat sich viel für sie verändert. Sie ist ratlos.
 
Eine alte Frau tritt in den Laden. Die ist 91, sagt der Bauer, der mit mir draußen sitzt, aber sie fährt noch täglich in die Stadt.
Zu uns an den Tisch setzen sich jetzt eine Frau und ein jüngerer Mann, die aber nicht zusammengehören. Die Frau versucht, den Mann ins Gespräch zu ziehen, sie redet ununterbrochen. Plötzlich sagt sie: Sie hören mir ja gar nicht zu!
Doch, doch! Beteuert er. Jetzt erzählt sie von ihren Kindern, und dann fragt sie nach seinen. Und jetzt, plötzlich, reden beide pausenlos wie Wasserfälle auf einander ein.
 
Er hat also fünf Kinder, sagt der Bauer jetzt. Und alle helfen sie ihm bei der Ernte.
Sie werden ebenso wenig Grundsätzliches über sein Schicksal sagen wie er, denke ich.




© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010