"Der Reisekamerad" von Hans Christian Andersen

Noch einmal gelesen

von Joachim Klinger

H.C. Andersen
Der Reisekamerad
von Hans Christian Andersen
 
Liebe zu Märchen wird in der Kindheit begründet. Wiederholtes Lesen festigt die Beziehung. Mein Lieblingsmärchen wurde "der Reisekamerad" von Hans Christian Andersen. Das lag nicht nur am Inhalt der Erzählung, sondern auch am Stil des Autors, der mir besonders gefiel.
 
Aber nun zum Inhalt! Die Geschichte beginnt sanft und traurig, wird abenteuerlich-spannend, steigert sich zu wildem und gruseligen Geschehen und beschert einen aufregenden Höhepunkt vor dem erfreulichen und glücklichen Ausklang. Eine derartige Fülle von Ereignissen und emotionalen Herausforderungen bieten wenige Märchen. Der "arme" Johannes - wie fromm, gottesfürchtig und gut er ist! - trauert um seinen Vater, der von ihm scheidet und feierlich beerdigt wird. Aber er weiß ihn bei Gott im Himmel. Er zieht in die Welt hinaus und betritt eine kleine Kirche, in der sich zwei garstige Menschen am offenen Sarg eines toten Mannes darüber beklagen, daß er ihnen Geld schuldig geblieben ist. Sie wollen sein friedliches Begräbnis verhindern. Johannes gibt seine ganze Barschaft her - immerhin 50 Taler -, um sie zufriedenzustellen und dem Toten die letzte Ruhe zu sichern. Ja, er ist ein wirklich guter Kerl!
Aber seine Güte wird auch reich belohnt, wie sich zeigen wird. Schon bald schließt sich ihm ein Wandergesell an, der nicht nur über Wissen und Erfahrung verfügt, sondern auch über eine wunderbare Heilsalbe. Eine alte Holzsammlerin, die sich das Bein gebrochen hat, kann nach kurzer Behandlung mit dieser Salbe wieder gehen, muß allerdings drei Ruten als Entgelt hergeben. Zerbrochene Marionetten werden wieder auf die Beine gebracht, und zwar so, daß sie ohne die Führung des Puppenspielers beweglich werden. Letzterer muß dem Reisekameraden dafür einen Säbel überlassen. Mit diesem trennt der Reisekamerad später die Flügel eines soeben verstorbenen Schwanes ab und fügt sie seiner Sammlung merkwürdiger Dinge hinzu. Natürlich ahnen wir: alles wird später gebraucht!
 
In der Hauptstadt des nach langen Wanderungen erreichten Königreichs lebt eine schöne, aber dem Bösen verfallene Prinzessin. Jeder Freier, der nicht errät, an was die Prinzessin denkt, wird hingerichtet. Zahlreiche junge Männer sind gescheitert, und es herrscht Trauer im Land.
 
"Die alten Frauen, die Branntwein tranken, färbten denselben schwarz, bevor sie ihn tranken - so trauerten sie. Und mehr konnten sie doch nicht tun!" 
 
Johannes verliebt sich in die Prinzessin, als er sie zum ersten Mal erblickt, und besteht darauf, um sie zu freien. Nun zeigt sich, daß der Reisekamerad über magische Kräfte verfügt. Während Johannes schläft, folgt er mit Hilfe seiner Schwanenflügel der Prinzessin, die zu einem mächtigen bösen Zauberer fliegt, um sich mit ihm zu beraten. Der Reisekamerad, der sich unsichtbar gemacht hat, peitscht unterwegs die Prinzessin mit seinen drei Ruten. Unsichtbar stellt sich der Reisekamerad hinter den Thron des häßlichen Zauberers und erfährt so, an welches Wort die Prinzessin am folgenden Tag denken soll. Vor dem Gang zum Schloß berichtet der Reisekamerad, er habe von einem Wort geträumt, und rät Johannes, die Frage der Prinzessin mit diesem Wort zu beantworten. Zweimal hat Johannes damit Erfolg. Der ganze Hofstaat schlägt Purzelbäume vor Freude.
 
Vor der dritten Begegnung mit Johannes flüstert der Zauberer der Prinzessin ins Ohr: "Denke an meinen Kopf!" Aber der Reisekamerad hört es doch und schlägt dem Zauberer mit dem Säbel den scheußlichen Kopf ab, sobald sich die Prinzessin abgewandt hat. Den im Tuch gehüllten Kopf übergibt er am folgenden Morgen Johannes und weist ihn an, das Tuch erst aufzubinden, wenn die Prinzessin ihre Frage gestellt hat. So geschieht es, und nun steht der Hochzeit nichts mehr im Wege: "Aber die Prinzessin warja noch eine Hexe und mochte Johannes gar nicht leiden."
 
Natürlich hat der Reisekamerad Mittel, sie aus dem schlimmen Zauber zu erlösen. Johannes gibt sie ins Badewasser und taucht die Prinzessin gehorsam dreimal unter. Dreimal kommt sie wieder empor, einmal als schwarzer Schwan, dann als weißer Schwan mit einem schwarzen Ring um den Hals und schließlich als schönste Prinzessin voll Güte und Reinheit. Vor der Hochzeitsfeier gibt sich der Reisekamerad als der Tote zu erkennen, dessen Schulden Johannes bezahlt hat und der nur die gute Tat vergelten wollte. Dann verschwindet er.
 
Ja, gute Taten bringen Glück und Segen! Natürlich habe ich mein Lieblingsmärchen kürzlich noch einmal gelesen. Da war mir der "arme Johannes" denn doch übertrieben fromm und gut. Aber auch eine unangenehme Frage begann mich zu quälen: Wie kann man - wenngleich "enthext" - unbefangen weiterleben und hat doch den Tod vieler junger Männer auf dem Gewissen? ich denke an den "Lustgarten" der Prinzessin.
 
“Da sah es schrecklich aus. An jedem Baum hingen drei, vier Königssöhne... Jedesmal, sooft der Wind sich erhob, klapperten alle Gerippe, so daß die kleinen Vögel erschraken...“   
 

© 2010 Joachim Klinger
Redaktion: Frank Becker