Gesellschaftlich essen

von Hanns Dieter Hüsch

© André Poloczek / Archiv Musenblätter
Gesellschaftlich essen

Na, wie geht’s? Gut, Hauptsache. Mir auch. Nur manchmal habe ich Beschwerden. Ich meine damit keine Krankheiten, sondern mehr so, wenn meine Frau sich beschwert, wenn ich mit vollem Mund esse beziehungsweise spreche, wollte ich sagen. Ich meine, mit vollem Mund essen ist ja erlaubt, das ist auch keine Leistung, das kann jeder, Aber mit vollem Mund sprechen, das muß sich erst noch durchsetzen, sage ich immer, und da ich gern spreche und gern esse, ist mir das schon in Fleisch und Blut übergegangen. Ich merke schon gar nicht mehr, wenn ich mit vollem Mund spreche. Doch dann merke ich, daß mich die Leute schon nachmachen, und dann höre ich sofort auf zu sprechen und esse den Mund restlos leer, bis auf den allerletzten Krumen, und dann habe ich meist den Faden verloren, und das Gespräch ist im Eimer. Ich bitte natürlich immer gestisch darum, also so mit der Hand, einen Moment zu warten, bis ich den Mund völlig leer habe, aber ich habe immer den Mund so voll, das dauert dann manchmal schon eine halbe Minute, bis der Mund restlos leer ist, und dann kann ich endlich astrein sagen: »Verzeihen Sie, aber der Gesprächsfaden ist futsch.« Ich kaue schon immer doppelt so schnell, damit mein Gegenüber nicht so lange warten muß. Manchmal halte ich mir auch den Mund zu und deute hinter der vorgehaltenen Hand an, daß der Mund gleich endlich leer ist. Früher habe ich sogar beim Essen geraucht, und zwar in der rechten Hand hatte ich den Löffel für die Linsensuppe und in der linken Hand die Zigarette. Aber das habe ich mir schon mal abgewöhnt, ich meine das Rauchen, die Linsensuppe natürlich nicht, wo denken Sie hin. Aber stellen Sie sich mal vor, ich hätte zu dem Rauchen und Essen auch noch gesprochen, da  wäre ich ja ein Multitalent gewesen. Komisch ist auch, wenn auf Festen so vierzig bis fünfzig Leute fein angezogen am Tisch sitzen und essen, und jedesmal sehe ich, daß sie sich unterhalten. Vierzig bis fünfzig Leute kauen auf Deuwel komm raus, immer schneller, um dann endlich wieder mit leerem Mund Rede und Antwort stehen zu können. Bei solchen Gelegenheiten müßte eigentlich ein Zeremonienmeister mit einem Schild stehen, bei denen auf der einen Seite ESSEN steht und auf der anderen Seite SPRECHEN, und der gibt dann immer Zeichen. Wie beim Fernsehen, da hat ja der Aufnahmeleiter auch immer Schilder, auf denen steht: LACHEN beziehungsweise KLATSCHEN. Ich sage immer, wenn man der Menschheit von vornherein erlaubt hätte, mit vollem Mund zu sprechen, dann würde das gar nicht so als Fauxpas angesehen werden, sondern wäre bestimmt hochvornehm. Nur daß man das meiste nicht verstanden hätte, aber das wäre nicht so schlimm, denn mit leerem Mund verstehen sich die Menschen oft auch nicht. Aber es ist natürlich gesellschaftlich höherstehend, deshalb übe ich jetzt auch schon immer, mit leerem Mund zu schweigen. Das ist das allervornehmste, man muß nur aufpassen, daß man nicht verhungert.



© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung