The Girl From Ipanema

Begegnungen

von Birgit Bayer

Birgit Bayer

The Girl From Ipanema



„Oh, ist ja schon schwer was los,“ sagt Bernd zu ihr im Treppenhaus.
Die Etagentür steht auf.
„Sieh an, ein hoher Gast,“ sagt Karin, zieht die Augenbrauen hoch, schaut  Ex-Hausherrn Heiner an, läßt sich seine Umarmung gefallen. Das Geburtstagkind Helge sei irgendwo im Getümmel, meint Heiner.
Durch den langen Flur, eine fahrbare Kleiderstange für die Mäntel, der Wandschrank faßt die Garderobe heute nicht, frisch weiß getünchte Raufaser, Bildergalerie, schön, woher kommen all die Bilder? Afrika. War Helge in Afrika? Nein, eigentlich doch nicht. Vietnam, Thailand, Dominikanische Republik. Das letztere vielleicht.
Partykugel im Rundbogen zur Küche, sacht schwimmen rosa Flecken  auf weißer Wand, Leopardenflecken, rosa Panther, nein, alles rosig. Rosen, zweifarbig aus Pappmaschee mit echtem Efeu am Treppengeländer  der Wendeltreppe zum Zwischengeschoss, Stimmengewirr. Helge in rot, blendet mit Schlank- und Schönheit, nimmt Karin und Bernds Geburtstagswünsche und die weiße Karte mit roter Schleife entgegen. Rote Röschen auf dem Tisch, zwischen  Efeuranken, gefüllte Rotweingläser, rote Teelichter, der Tisch ist voll besetzt, Nicken, Rufe, ein Sektglas, Griff ins Salzgebäck, „hallo, wie geht´s“, „wer ist das denn da drüben?“.

Streiflichter. Geburtstagsparty: Anne und Chris sind aus Dänemark gekommen, haben sich nun doch wieder eine Wohnung in Ehrenfeld gekauft, zwei eigentlich, die eine haben wir vermietet, (woher haben die soviel Geld, Wohnung im Bergischen, in Köln, Haus in Dänemark, Wohnung in Frankreich; sie ist Psychotherapeutin, was macht er eigentlich? schon seit einiger Zeit pensioniert, sieht gut aus, schlohweiße Haare, schlank, sie ist ein Trumm, 20 Jahre älter als er, sollte man meinen,) Karin lächelt sie an, schaut nicht Chris an, der sich an ihrer Figur festsaugt, Beklommenheit.
Helges Ex (nein, seine Neue ist nicht hier, Helge hat sie nicht eingeladen, richtig so, selbst sein Vater will die nicht sehen, seine Schwester lädt die auch nicht ein, einige der Freunde würden mit Sicherheit ganz schnell die Party verlassen, wenn die hier wäre, alle halten sie zu Helge, der Verlassenen) taucht im Rundbogen auf, schaut zu Karin. Oh nein, weg hier.

Die Treppe hinauf, roter Riesengummibaum bis unter die Schräge des Mezzanine, das weiße Tischtuch auf dem Eßtisch bewegt sich rosig, aha, zweite Partykugel unter der Decke, bauchig gefüllte Rotweinkaraffe, runde Gläser, schön. Auf dem hohen 18. Jahrhundert Schrank wirft ein Diagerät Helge auf weiße Wand einen Stock höher: Helge im Badeanzug mit drei glutäugigen Italienern am Strand, Helge  als Spanierin mit Fächer und schwarzem Spitzentuch, Helge elegisch blickend. Lebensstationen, alle paar Sekunden ein neues Bild. Vorbei, vorbei, lange vorbei.
Daran vorbei klettert Karin ins höher gelegene Wohnzimmer, das Klavier ist an die Wand gerückt, ein bärtiger Blonder spielt auf einem Keyboard, neben ihm eine junge Frau in Schwarz, Dreiecksfigur mit Cacheur kaschiert, sie singt „killing me softly with his song“, eine Oktave zu hoch, viel zu schrill, killing me with her voice. Helge sitzt ergeben, lauscht ihrem Geburtstagsgeschenk, neben ihr, zwangsverpflichtet, eine Kusine. Drei große frisch gerahmte Fotos neben Helge, („haben mir meine Kinder zum Geburtstag geschenkt“), drei rosige Gesichter vor rotem Herbstweinlaub, (merkwürdiges Geschenk, die Blagen haben ja wirklich Selbstbewußtsein), hinter Helge die drei gemalten Kinderporträts von Toni May, (den haben wir gestern beerdigt, er wäre nächste Woche 90 geworden, wir haben so eine schöne Feier für ihn vorbereitet, die machen wir aber trotzdem, so wird es eine Hommage, ja schön, richtig so, gut das ihr das macht), ist das nicht ein bißchen viel Kind?, zahllose Fotos hängen auch noch im Haus verteilt.
„ Monday, Monday,“ schrillt
es. Hilfe, denkt Karin, wieder hinunter, die ganze Oktave zu hoch dringt zwei Geschosse tiefer bis in die Küche, kölsche Kneipe Geräuschpegel deckt sie etwas ab, Helges Ex schaut schon wieder interessiert, oh nein, wohin?

Dort hinten am Ende des Raums sitzt Harald an einem Katzentischchen, wie immer am Rande des Geschehens, zwei leere Stühle. Ihr Mann Bernd setzt sich gerade dazu. „Hühnerharald,“ denkt Karin. „Das war der Schimpfname von Helges Ex Heiner, die beiden mochten sich nicht, kennen sich schon seit dem Studium, hatten sich aus den Augen verloren. Dann tauchte Hühnerharald plötzlich wieder auf. Uta, eine Freundin von Helge hatte ihn irgendwo kennengelernt und ihn geheiratet, als zweiten Ehemann.
Surprise, surprise, kicherndes hinter der Hand „HühnerHarald“ wird auch wieder geflüstert. Entschuldigung folgt gleich nach: „Ist doch nur eine alberne Erinnerung, weil wir ihn mal in Essen vor dem Hühnerhugo getroffen haben“, keiner glaubt dieser harmlosen Erklärung, jeder schaut in Haralds großes hakennasiges Gesicht, wulstige Lippen, reiche Augenbrauen, tiefliegende Augen, introvertierter Blick. „Eigentlich ist er ziemlich arrogant“, denkt Karin und schaut auf sein lockiges Haar, sein seidenes Halstuch. Das trug er immer schon. Schon im Studium. Er ist Musiker, klar, das sieht man am Outfit. Piano. Natürlich Flügel. Akademiker? Na sicher. Jurist, aber eigentlich nur so ein Interessestudium. Eine Kanzlei hat er nur so nebenbei. Hauptsächlich ist er Intellektueller. Na, aber hallo. Wenn es den nicht schon gegeben hätte, hätte er ihn erfunden. Er fuhr mit seinem alten Vater sechs Wochen in Kur. Wenn der Anwendungen hatte, oder Mittagsschlaf hielt, setzte sich Harald hin und las. Dostojewski. Er schätzt die Russen. Hat er ausgiebigst gelesen, hat es genossen, hatte Zeit auch den ganzen Tolstoi zu lesen während dieser Zeit. Kannte er natürlich schon. Aber was man schätzt....die Russen sind eben groß.
Wie lange kennt Karin ihn schon? Sicher 30 Jahre. Aber nach dem Studium haben sie sich nur alle Schaltjahre mal gesehen.

Sie drängt sich an Spüle, Herd, blauer Küchenanrichte mit Weinzapfkartons, plaudernden Grüppchen vorbei. Es ist rappelvoll hier. Unter Heiners verfolgenden Blicken bahnt Karin sich ihren Weg durch wild durcheinander geschobene Stühle, einer besessenen Trittleiter und einem Bürostuhl vorbei. Ein Dreiertisch ist genau das, was sie jetzt braucht. So kann sie Heiners Nähe entgehen. Harald ist dem Alkohol eher zugetan.
Küßchen. Harald guckt erfreut. Aber zurückhaltend. Das wird sich geben nach seiner ersten Flasche Wein. Dann lockert er ein wenig auf. Aber das hat sie auch erst vor ein paar Jahren gemerkt. Überhaupt hat sie eine Menge erst vor ein paar Jahren gemerkt. Zunächst hat sie ihn, wie alle anderen, überrascht wiederentdeckt, als er plötzlich bei einem Geburtstag als Utas Neuer auftrat. Surprise, surprise.

Harald. Nebelhafte Erinnerung. Die Studentenbude in Sülz (die Kinder: „Oooh nein, nicht schon wieder – wir wissen ja, 12 qm und davon 3 qm von einem riesigen Kachelofen besetzt, Klo auf dem Flur, geteilt mit zwei anderen Parteien, kein Bad, dreimal klingeln – ja, ja, was haben wir es gut – eigene Wohnung mit Bad!!!“) in die er eines Tages – nach dreimal klingeln – hereinspaziert kam. Höflich, immer gut erzogen, der perfekte Gentleman, was wollte er eigentlich? Sie war ein wenig befremdet, hatte ihn damals kaum gekannt. Ah ja, ein Freund von Heiner, so hatte er sich vorgestellt. Interessant, aber sie konnte nichts mit ihm anfangen. So saßen sie da, er auf dem einzigen Sessel, sie auf der Schlafcouch, unterhielten sich, worüber? Keine Ahnung. Zwei oder dreimal ließ er seine Hand in Richtung ihres Knies wandern, sie verfolgte es mit Unverständnis, ja klar, sie ahnte, was er wollte...... Freund von Heiner.

Sie wußte damals noch nicht, daß sie unter dem Titel „leicht zu haben“ rangierte. Haralds Freunde hatten sich einen Spaß mit ihm erlaubt, dem Unglücksraben, dem Schüchternen, der vor lauter guter Erziehung nicht zu Weibe kam: „Den schicken wir mal zu Karin, damit er auch mal ne Frau in die Hände kriegt“. Kriegte er aber nicht, Hagestolz war zu stolz, war aus Holz. Selbst Karin, ahnungslos und gehorsam wie Harald Hagestolz, konnte zu ihm „nein“ sagen, oder brauchte nicht, konnte Unverständnis zeigen, durfte Unverständnis empfinden, das reichte schon, wie jede Frau bei ihm Unverständnis zeigte. Er ging wieder, gut erzogen, unverrichteter Dinge. Damit war er eigentlich aus ihrem Leben verschwunden. Hier und da hatte sie ihn in Grüßentfernung mal wieder gesehen, immer am Rande des Geschehens, im Umfeld von Heiner und seinen zahlreichen Freunden.

Karin hat sich durchs Gewühl gedrängelt, setzt sich zu Harald und Bernd, der wissen will, ob Heiners Neue auch hier ist. „Hast du die auf Heiners Geburtstag nicht gesehen“ „Nein, wie sieht die denn aus? „Wie ein 95 jähriger Pilz, den man im Wald vergessen hat“, „Na, na, na, das ist aber hart – so schlimm ist es auch nicht.“
Schweigen. Von hier aus ist die Diashow gut zu sehen, Helge in hundertfacher Wiederholung, drumherum die Rosen, die Kinder bauen sich auf der Treppe auf, aha es gibt Programm. Lebensstationen: „Vieles müssen wir hier vergessen, denn wir wollen endlich essen“, das Büffet ist eröffnet. Sie haben Helges Reisestationen nachgekocht, scharfe Suppe aus Thailand, Boeuf Bourguingnon aus Frankreich, Nußtorte aus der Schweiz, Vietnamesisches und Afrikanisches, alles mit feiner Handschrift auf weißen Kärtchen betitelt, schön. Die Regalwand des Arbeitszimmers ist verhüllt mit weißen Bettüchern, Fotos aus Helges 60 Lebensjahren darauf. Wie haben sie es bloß geschafft, so viele Fotos ohne Heiner zu finden? Nach 24 Ehejahren von allen Fotoflächen ausgeätzt. Manchmal tut er Karin leid: „Heiner ist ein bißchen kleiner.“

Sie hat sich als Erste zum Büffet geschlichen, unter der Wendeltreppe durch, der normale Zugang ist versperrt durch stehende, sitzende Partygrüppchen, es würde eng hier werden, hat sie geahnt. Noch transportieren die Töchter Töpfe und Schüsseln (Sofie, die Älteste wie immer mit den Fingern in der Salatschüssel, seit 24 Jahren).
Karin klaubt sich einen Teller mit Fingerfood zusammen für ihren Dreiertisch. Harald schaut hochmütig „hier nimm“, Kopfschütteln, „nein ich will nichts essen“. Dann greift er doch zu, klar, findet die messerscharfe Sauce überhaupt nicht scharf, klar, und löffelt – so intim sind wir - den letzten Löffel Suppe aus Karins Teller, von ihrem Löffel, „ da ist Koriander drin und Ingwer“, ah ja, Kochen wäre ein Thema.
Harald macht die Gans nur klassisch „in Metaxa marinieren, so ein Blödsinn“. Jetzt raucht er Kette, auch sein Rotweinglas wird schneller leer, Rezepte kennt er gar nicht, ihm fallen die Mengen der Zutaten beim Kochen immer ein, egal ob Sülze oder Heringssalat.
Kocht er denn nur Hausmannskost?
Wieso, kennst du meine Sülze?
Nee, möchte ich auch nicht kennenlernen, mag ich nämlich nicht.
Seinen Herd findet sie aber superklasse, den hat sie sehr bewundert auf der Sylvesterfeier damals bei Harald, diesen Superprofiherd, Gas, Kohle und Elektro, toll!
„Was meinst du wie schwer der ist, da sind noch die alten Schamottsteine drin...“
Sicher so schwer wie Karins altes Klavier mit dem Gußeisenklangboden. Das hat sie mal vom Keller in den ersten Stock transportieren lassen, die Klaviertransportleute – Fachleute – hatten sich geweigert: kriegen wir nie da hoch, sie hatte ihnen was von Astronauten und Mondfahrten erzählt und sie kriegen nicht mal ein Klavier in den ersten Stock?! Sicher hat der eine es seitdem an den Bandscheiben.

Harald bezweifelt das, außerdem haben alle Klaviere Gußeisenklangboden, sein Statement duldet keinen Widerspruch. Harald macht nur Statements, egal ob Backpflaumenfüllung, Klavier oder Tolstoi. Er besieht sich die Sache aus der Distanz, aus seinen tiefliegenden Augen, über seine Nase hinweg. Sein Profil ist wie aus Stein gemeißelt, findet Karin.
`Hagestolz, Hagestolz, ist aus Holz´  denkt Karin. `Alle drei sind wir aus Holz´.
Sie reden weiter über Kochen, Harald ist der Einzige, dessen Hobby Kochen ist. Die drei halten sich am Herd fest, hangeln sich an Karins gesponnenen Faden ihres fadenscheinigen Interesses entlang.

Drüben am Tisch sitzt Haralds Frau Uta. Von dort aus müssen sie aussehen wie in einer angeregten Unterhaltung, Uta schaut immer mal wieder herüber, schlank, in langem Ane Kerssen Schwarz mit silberschwarzem Schal, erhebt sich schließlich. „Möchtest du meinen Stuhl?“ Nein, sie will nicht sitzen, lehnt sich an den Schrank, Harald steht auf um sein Glas wieder zu füllen, Uta greift nach ihm, gibt ihm im Davongehen einen Kuß.
Karin schaut erstaunt, das paßt nicht ins Bild.

Zuletzt hat sie die beiden Silvester vor zwei Jahren bei Harald gesehen. Die Altbauvilla war mit Ecuador Rosen dekoriert, der Duft erfüllte alle Räume. Eine große Bibliothek, ein prächtiger Flügel, eine Wahnsinnsküche mit dem Profiherd. Dennoch eine merkwürdige Atmosphäre dort. Als sie ankamen, saß Uta am großen Eßtisch, Enkelin auf dem Schoß, Nichten, Kusinen und Töchter um sie herum, im Gespräch vertieft, kaum ansprechbar. Minuten später sah Karin, wie Uta eine Verwandte begrüßte. Zärtlichkeiten: Große Umarmung, den Kopf zurückbiegen, mit Armen um die Taille einander ansehen, ein paar Worte, erneute Umarmung, sich lösen. Hand in Hand, die andere streicht übers Haar, Arm um Taille durchs Gewühl zum Tisch.
Die Stimmung steigt mit dem Alkoholpensum, es wird laut und ausgelassen, die Tanzfläche ist dicht bevölkert. Und Karin stellt verblüfft fest, daß nur Frauen tanzen. Frauen tanzten mit Frauen, junge Mädchen mit Tanten, kleine Kinder mit Omas, kleine Mädchen miteinander, Teenies mit Kusinen. Wo sind die Männer geblieben?

Ihr Mann Bernd und ein anderer Gast sitzen bei ihr am Tisch. In der Küche trifft Karin ein paar Männer im Fußballgespräch. Harald, den Hausherrn,  findet Karin auf einem Hocker in einer Flurecke, Rotweinflasche neben sich. Er ist bereits weit davon getragen, schaut sie mit gütig brabbelndem Blick an:  „Sie amüsieren sich hier alle. Ich stelle die Räume und sie amüsieren sich hier, immer. Alle feiern sie immer bei mir. Ich habe das Haus dazu, sie amüsieren sich, es gefällt ihnen hier“. Seine Frau weht vorbei, streift ihn mit einem Blick. Kein Kommentar, kein Kontakt.
Nun hat Uta sich doch auf Haralds Stuhl gesetzt. Harald ist am Weinspender hängen geblieben.
Karin war durch die kleine Zärtlichkeitsszene so in ihre Erinnerung vertieft, daß sie nicht aufgepaßt hat. Heiner hat sich blitzschnell an Utas Stehplatz gestellt. Das wollte Karin eigentlich vermeiden. Nun hat Heiner diese Ecke erobert, Harald wird den Tisch vorerst meiden.
Die beiden haben sich beim Repetitor kennen und geringschätzen gelernt. Karin kannte Heiner schon vorher, er hatte sie angebaggert, sie und ihre Kusine Elke auf der holländischen Ferieninsel. Sie sprangen auf dem open air Trampolin herum und amüsierten sich. Oben auf dem Damm stand Heiner mit seinem Kommilitonen Peter (sein Bruder Tänzer, schwul, nur unter vorgehaltener Hand damals, wie ist das bloß möglich? zwei so verschiedene Brüder!) und schauten zu.
Als die beiden dann nach oben auf den Deich kamen, sprach Heiner sie an. Man landete in Henks Kneipe bei Heineken´s Bier, am nächsten Morgen mußten die beiden wieder gen Köln fahren, versehen mit Karins Adresse.

Heiner, klein, eher gedrungen, dunkelhaarig mit der sprichwörtlichen Fröhlichkeit des Kölners. Er hatte tausend Ideen, stieß an, machte munter, meist mit dem Mund. Bei der tätigen Umsetzung seiner Ideen stand er  dann immer noch an gleicher Stelle und trug schwer an seiner Verantwortung. Er lachte gern, aber seine Augen schossen dabei weiter umher. Er hatte alles im Blick, nichts im Herzen. Er war butterweich in seiner Härte, nie konnte man ihn fassen.

Er wußte, wer gerade für ihn von Vorteil war, vertiefte sich ins Gespräch, dessen Ende er geplant hatte. Nur seine Freunde, die ihn kannten, bereiteten ihm dann oft eine Überraschung, sagten ihm wo es längs ging – wollten auch ihre eigene Richtung gehen, dorthin, wohin er nie wollte. Dann lachte er es weg, drehte sich zu jemand anderem. Keine Verbindlichkeiten, bitte. Immer  offen nach allen Seiten. Zumindest zu den Seiten, die es lohnen. Welche das waren, wußte nur er. Er konnte bei einem Treffen mit vielen Leuten jemanden völlig übersehen, auch wenn dieser jemand neben ihm stand und mit ihm redete. Er blickte über die Menge und vergaß ihn einfach. Manchmal ging er mitten in dessen Wort fort. Ließ den anderen einfach stehen. Aber niemand sprach ihn darauf an. Er hätte es wohl auch nicht verstanden. Er war doch für alles offen, oder? „Dat is ne komische Möpp“, flachste er dann, wenn jemand irgendeine Kritik glaubte aussprechen zu müssen.
Immer war alles super. Das Leben ein großes Fest. Er hatte stets die besten aller Karten.
Warum hatte er es auf Karin abgesehen?
Auch jetzt noch, nach Jahren? Karin hatte das nie verstanden.
Sie hatte begriffen, damals, daß es für ihn keine Bindungen gab – aber warum verfolgte er sie immer noch mit seinen Erinnerungen?

Wenige Wochen nach ihren Hollandferien hatte er sie in Bonn besucht. Ein spontaner, fröhlicher Überfall, wie immer. Es klingelte dreimal  und er stand vor der Tür. „Grüß dich – ich habe mir einen Austin Mini gekauft – komm runter, wir machen eine Probefahrt.“ Und sie freute sich, rutschte mit dem Po über den Asphalt – so jedenfalls erlebte sie den Austin Mini – teilte seine Begeisterung für das spritzige Auto, lachte mit ihm über einen frisch gehörten Witz, trank ein Bier und wurde wieder zu Hause abgeliefert.
Er kam öfter, immer unversehens, immer nur für eine Zwischenstation zwischen wer weiß welchen Aktivitäten. Sie gewöhnte sich daran, genoß auch seine Einfälle. „Komm raus, was machst du hier drinnen – laß doch das blöde Seminarreferat, draußen scheint die Sonne. Es ist Frühling, laß uns den Frühling feiern.“
Und er wedelte mit einer Rotweinflasche, hatte auch Camembert und Baguette im Auto, wie er sagte. „Wir fahren nach Rodenkirchen und machen Picknick.“ Und sie folgte ihm, hörte Jazz im Autoradio, sah, wie blau der Himmel war, roch den Rhein und vergrub die Füße im warmen Ufersand.
Dann kam er eines Tages im Regen. Diesmal ohne Rotwein, dafür hatte er eine neue Schallplatte. „Mußt du unbedingt hören, eine neue Sängerin, Astrud Gilberto, Wahnsinnsstimme, „The Girl From Ipanema. Ist einfach klasse.“
Sie legte auf und hörte. Auch er schien völlig vertieft, dann griff er nach ihr.
Sie begriff, daß er mit ihr schlafen wollte, bereitete sich auf Zärtlichkeiten vor, war ja nicht abgeneigt, aber da lag er schon auf ihr, nestelte unten an ihr herum. Sie spürte nichts und da war es schon zu Ende, hatte er wirklich schon angefangen? Offenbar, er knöpfte sich wieder zu und verließ ihr Zimmer, „The Girl From Ipanema“ ging immer noch passing by, vielleicht hatte er es eilig, sicher kam er morgen wieder.

Er kam aber nicht, es dauerte ein paar Tage, sie hatte sich ziemlich einsam gefühlt, auf seinen Besuch gewartet, auf einen seiner fröhlichen Überfälle, aber die hatten plötzlich ein Ende.
In dieser Zeit war Harald bei ihr aufgetaucht und sie hatte nichts mit ihm anfangen können, hatte das auch gar nicht gewollt. Sie vermißte Heiner und beschloß zum ersten mal, ihn aufzusuchen, wußte auch, wo sie ihn finden konnte. Nachmittags ging sie über den Vorplatz auf die Uni zu und sah ihn nach seiner Vorlesung durchs Hauptportal kommen, erspähte ihn schon von weitem, strahlte ihn an. Warum machte er solch ein merkwürdiges Gesicht? Noch bevor sie verstehen konnte, hatte er sich auf der Hacke umgedreht und verschwand eiligst wieder im Gebäude.
Hatte sie etwas falsch gemacht?
Sie war nach Hause gegangen, leer, mit Fragezeichen in Herz und Hirn.
Nach dieser seltsamen Flucht vor der Uni hatten sie sich gänzlich aus den Augen verloren. Er war einfach von der Bildfläche verschwunden gewesen.
Peter war eine Zeitlang geblieben, Karin hatte sich hin und wieder mit ihm getroffen, freundschaftlich, dann hatten sie sich auch aus den Augen verloren.
Später hatte sie erfahren, daß Heiner mit Freunden eine lange Reise durch Marokko gemacht hatte. Danach hörte sie immer mal wieder von ihm aus seiner Clique. Er war  Sprachlehrer, Reiseleiter, Skilehrer, Schauspieler immer etwas Neues – das Leben ein großes Fest. Segeln, Golf spielen, Backgammon, Schach, gab es etwas, das er nicht tat? Er konnte gut über alles reden, man mußte staunen, wie gut er französisch sprach, englisch sowieso, sogar holländisch. Die Golfspieler und Schauspieler meinten, er sei ein Blender. Aber das merkten die meisten nicht.
Sie war in andere Kreise eingetaucht, hatte neue Freunde, dann Examensnöte und der Berufsstart.

Im ersten Referendarjahr sprach sie eine Kollegin an: „Kennen wir uns nicht?!“: Gisela, Peters Freundin, inzwischen Ehefrau. „Habt ihr noch Kontakt zu Heiner?“, „Eigentlich kaum“. „Könnten wir doch mal machen“.
Karin lud ein zum sommerlichen Frühstück unterm Apfelbaum im Garten. Heiner brachte seine Frau Helge mit: „Wir haben uns auf der Straße kennen gelernt, Heiner hat mich angequatscht“. Helge ist größer als er, Heiner ist ein bißchen kleiner. Mit von der Partie war ihr erster Sohn René. Karin stellt ihren Mann Bernd vor.
Alte Zeiten. Heiners Augen sind immer noch flüchtig, wandern unruhig über den Garten, die anderen Gäste. Helge erzählt von den Reisen im Wohnmobil mit Baby, Bernd und Karin von Reisen ans Meer.
Man sieht sich im Laufe der Jahre. Helge mit drei Kindern, Karin mit zwei.
Heiner immer noch mit dem Kölschglas in der Hand, munter mit dem Mund, stets in der Mitte zwischen großen Freunden.

Heiner ist ein bißchen kleiner.  Aber immer alles super, die Kinder der absolute Superglücksfall, der Beruf? Na prima, alles bestens.
Ach Heiner. „I believe I can fly“, plötzlich war er auf Ente umgestiegen. Vom schweren Volvo Turbo auf Deuxchevaux. „ Ist doch lustig, macht doch Spaß“, und lachte munter. Warum eine Ente? „Ist doch wunderbar, wollte ich immer schon mal haben.“ Mit drei kleinen Kindern nach Spanien im Deuxchevaux? „Na sicher, man muß alles mal versuchen“. Immer alles bestens, immer mal was Neues. Geldschwierigkeiten? Nicht die Bohne, nur Lust am Neuen.
 „Er wollte immer so gerne fliegen“ besangen ihn seine Freunde zum 60. Geburtstag: Sprachlehrer, Reiseleiter, Skilehrer, Schauspieler, es wuchsen ihm keine Flügel. Die bekam er dann erst beim Segelfliegen. He believes he can fly, aber er behielt doch lieber Bodenhaftung, kochte unten für die Flieger und peilte den Himmel an. Noch ein Versuch nach 24 Jahren Ehe die neue Frau. Keiner versteht Heiner. Er ist und bleibt ein bißchen kleiner.

René, Heiners ältester Sohn,  ist auch ein bißchen kleiner, stellt Karin heute bei Helges 60tem nicht zum ersten mal fest. Neben ihm seine Freundin, sie sieht aus wie Helge mit 20 – mit welcher Treffsicherheit Männer ihre Mütter heiraten! Sie haben sich nicht begrüßt. Komisch eigentlich, wie viele hier sind, die man nicht begrüßt. Man nimmt sich wahr, wie jedes Jahr. Helges Geburtstag, Helges Freunde. Drüben Gregor, der Mann ohne Hintern, die Hose droht ihm seit 30 Jahren auf die Knie zu rutschen, ein Kopfnicken nur, seine Frau Cilli hat mächtig zugelegt, Karin freut sich.

Heiner ist zum ersten mal hier nach der Trennung vor 6 Jahren, er schaut sie schon wieder an, Karin wechselt an den Eßtisch, neben die große Sofie: „Hallo, spielst du noch Theater?“, „Nein, ich mache eine Pause – und du? Immer noch Bridge?“ Aber ja, befriedigtes Nicken, alles im grünen Bereich, alles abgeklärt für dieses Jahr.
Nur Heiner sucht sie schon wieder mit den Augen. 
`Laß mich bloß in Ruh´, denkt  Karin und an das letzte Treffen im vorigen   Sommer.
Es  war sein 60.Geburtstag, Riesenfest im Brauhaus, herzliche Umarmung von Heiner, die ehemaligen Freunde von früher herbeizitiert. Wiedersehensworte für Karin: „Gute Musik hier,“ meint Hans  (ein Ex aus Studienzeiten) als Stichwortgeber. Heiner hat drauf gewartet, mit stechendem Blick zu Karin: „Ja, aber nicht so gut wie damals – weißt du noch...The Girl From Ipanema....“
`Oh Gott, nein, nicht schon wieder, hat er denn immer noch nicht genug davon´? denkt Karin, sieht die drei grienenden Freunde. `Sind die als Sekundanten hier? Warum quatscht der schon wieder davon, er nervt, er nervt, er nervt.´
Aber sie traut sich nicht, ist viel zu freundlich, will ihm Scham und Schmach ersparen, hatte geglaubt, ihn schon vor 10 Jahren ausreichend gewarnt zu haben.
Damals war es die  Geburtstagsfeier zuhause bei Heiner. Karin stand auf der Treppe im Kreis von Hans, Heiner, Harald und Rolf, Heiner beschwört wieder The Girl From Ipanema. Und immer mit diesem stechenden Blick, soll wohl verklärt wirken. Karin ist sauer:` Ja, Girl from Ipanema kennt sie, aber was hat er denn immer damit? War da irgendwas? ´
Hans, Harald und Rolf lauern, warten ab, Heiner guckt beleidigt,  Karins Mann Bernd erscheint in der Runde.
Heiner spricht von Karins harter Schlafcouch in der Studentenbude in Sülz, Karin schaut erstaunt und total unschuldig: „Wieso, haben wir zusammen geschlafen?“ Eigentlich sollte das Bernd nicht unbedingt wissen, aber jetzt kann sie nicht mehr zurück, Vorwärtsverteidigung. Heiner hält den Atem an, nickt bekräftigend. 
`Schwachkopf – wozu dieses Theater, er hat es wohl nötig!´ Die drei Freunde gucken abwartend, Karin ist die Harmlosigkeit in Person: „Daran kann ich mich garnicht erinnern“.
Brüllendes Gelächter der drei Freunde, Hans schaut befriedigt, Heiner beschwört Astrud Gilberto, Hans und Rolf reißen Witzchen, ziehen ab in Richtung Bierfaß. Heiner ätzt mit rachsüchtigem Blick auf Harald: „Du hast sie doch auch mal besucht?“, Harald windet sich, Karin  scheint genauso ahnungslos wie eben: „Haben wir auch zusammen geschlafen?“, armer Harald schüttelt den Kopf. Er tut ihr eigentlich leid. „Nein, hatten wir nicht nötig, wir haben uns gut unterhalten“ murmelt Harald Hagestolz.
Heiner schaut unzufrieden, Karin flüchtet: „Ich hol mir mal was zu trinken“.

Sie wendet Heiners Blick den Rücken, die Küche ist überfüllt, (immer sammelt sich alles in der Küche` Helges alljährliche Klage, geht doch mal ins Eß- oder Wohnzimmer, aber sie sitzt auch meist hier, ist doch so gemütlich). Es ist nach Mitternacht der Altersdurchschnitt fällt zusehends, die Kinder aller Freunde tröpfeln ins Geschehen, (warum sind die eigentlich alle fast zwei Meter lang? Sie sehen zumindest so aus).
Werner klappt die Leiter neben ihr auf, alle Stühle sind  - teils von zwei Leuten mit je einer Pohälfte -  besetzt, neben ihm sitzen Bernd, daneben Heidi aus Lichtenstein, Heiners Schwägerin.
Bernd wendet sich an Heidi: „Wir haben uns auch nie so richtig kennengelernt“. Karin hängt sich mit einem Nicken daran. „Wer seid ihr denn?“,  fragt die Schwägerin. „Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Ihr wart ja auch oft in Riezlern zum Skifahren, ich war ja lange nicht mehr da. In diesem Sommer waren wir in Kasachstan, war ein Erlebnis, 16 Stunden haben wir an der Grenze gestanden und gewartet, pure Schikane, dort ist die Zeit stehen geblieben.“
Sie erzählt. Spannend. Nette Person, warum hat sie sich nicht schon mal früher mit ihr unterhalten?
Karin greift nach ihrem Glas, rammt ihren Ellbogen dabei in etwas Weiches. „Oh Entschuldigung,“ murmelt sie, ohne hinzugucken.
„Macht nix“, Harald sieht sie aus samtweichen Augen an. Er lächelt wie zu Silvester, alles an ihm plötzlich weich, „wir kennen uns ja schon so lange, kannst mich ruhig boxen, hahaha..... wie lange kennen wir uns denn eigentlich?“
„Also, ich kann mich noch gut an deine Bude in Sülz erinnern,“ tönt es mit Heiners Stimme.
`Das darf doch nicht wahr sein, wieso sitzt Heiner plötzlich schon wieder ihr gegenüber und wer hat ihn überhaupt nach was gefragt´ empört sich Karin.
Harald mißt Heiner mit Blicken.
 „Ich kann mich auch noch an diese schauderhafte Bude erinnern“, sagt Karin lahm um die
Atmosphäre zu entspannen..
„Ich fand sie aber seeehr schön“ intoniert Heiner. Wieder dieser stechende Blick!
`Das darf doch nicht wahr sein, Junge, verpiss dich!´ wütet sie innerlich.
„Ich auch,“ sagt Harald da, „war doch schön, oder?“ und greift nach ihrer Hand.
Harald hält ihre Hand fest, drückt sie, beugt sich zu ihr: „Unsere Erinnerungen sind ganz intakt, nicht wahr?“
Was ist denn jetzt los? Hat der plötzlich auch Erinnerungen? Panik.
Heiner fallen die Augen aus dem Kopf
Verschwörerlächeln von Harald. Hypnoharald.
„Ja, „ sagt Karin fügsam und versteht nicht, was vor sich geht.... und –
„Nein!!!! Was im Himmel meinst du denn eigentlich?“ wehrt sie sich.
„Müller hieß der Wirt, nicht wahr“, schmeichelt Harald dicht vor ihrem Gesicht, Karin bleibt der Mund offenstehen.
Was läuft hier eigentlich, wovon redet der? Alles Müller oder was?
„Weißt du noch, The Girl from Ipanema“, schießen Heiners Augen Blitze zu ihnen rüber
„Ich muß mal aufs Klo“, entscheidet Karin und setzt sich ab.

Sie  rennt in Bernd hinein, der gerade von dort kommt, er ist müde, na, heureka, nix wie nach Hause!
Über die Treppe nach oben, Pfötchen geben bei Helge, tolle Party, aber ich habe ne Erkältung in den
Knochen, bis nächstes Jahr.
Über die Treppe nach unten.
„Gehst du schon? ruft Heiner, Karin ist taub.
„ Karin,“ bittet Harald waidwund.
Gut, daß es hier so überfüllt ist. Bei jeder Bewegung versperrt jemand den Blick.
„Bis nächstes Jahr“.
„Ja, bis nächstes Jahr, ok.“
Nächstes Jahr, ja. Dann wird Heiner nicht hier sein.
Helges nächster runder Geburtstag ist der 70.!

Da wird Karin garantiert mit schwerem Gichtanfall das Bett hüten, den Oberschenkelhalsbruch ins Krankenhaus tragen müssen, die arthrösen Gelenke pflegen - auf jeden Fall wird sie nicht fähig sein, zur Geburtstagsfeier zu kommen! – GrandmafromIpanema!


© Birgit Bayer - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007