„La Bohème“ - Wiederaufnahme am Aalto in Essen

Festspielwürdiger Opernabend einer wunderschönen Inszenierung

von Peter Bilsing


„La Bohème“ -
Wiederaufnahme am Aalto in Essen
 
Festspielwürdiger Opernabend einer
wunderschönen Inszenierung
 
5. November 2010
 
Wer sich über die marginale Zahl von nur fünf Opernpremieren dieses Jahr in Essen am Aalto mokiert, solle zur Kenntnis nehmen, daß es sagenhafte 16 Wiederaufnahmen gibt. Und was für welche! Bis jetzt ist die eine schöner als die andere und ich wage zu behaupten, wenn ich so in meiner Erinnerung krame, manche erklingt fast noch besser als die Uraufführungs-Premiere. Und wenn ich von der gestrigen „Bohème“ ausgehe, so muß man sich ernsthaft fragen: Wie ist so ein Weltklasse-Niveau möglich? Bravi-Chöre und jubelnder Applaus für ein Spitzenorchester und ein Solisten-Ensemble, welches weit und breit seinesgleichen suchen kann. Es ist von einer Aufführung zu berichten, die trotz des Alters von 13 Jahren die jüngeren Neuproduktionen aus Düsseldorf und Wuppertal klar in den Schatten stellt, wenn nicht sogar deklassiert. Großer Dank und Anerkennung muß der „szenischen Leitung der Wiederaufnahme“, Marijke Malitius, gelten. Sterne-Niveau!
 
Daß man die gerade in Bonn noch bei der letzten Katja Kabanova-Premiere (siehe ausführliche Kritik im OPERNFRFRUND) geradezu in den Opern-Himmel gejubelte blutjunge Russin Irina Oknina statt

Irina Oknina - Foto © Theater Bonn
der angekündigten Olga Mykytenko kurzfristig eingesetzt hatte, erwies sich als Glücksgriff sondergleichen. Zusammen mit dem zur Zeit vielleicht besten Puccini-Tenor, den ich kenne, Zurab Zurabishvili hörten wir ein Traum-Team, welches nicht nur durch perfekte Diktion und Schauspielkunst, sondern auch durch eine perfekte Auslotung der Partien und ihrer Höchstschwierigkeiten (alle Spitzentöne wurden perfekt ausgesungen; wann hörten wir das seit Pavarotti?) in die Herzen des Publikums sang.
 
Besseren, ergreifenderen und überzeugenderen Gesang habe ich in den Zeiten des heutigen Musiktheaters bei einer „Boheme“ selten gehört und erlebt. Wobei ich Herrn Zurabishvili (auch nach seinem sensationellen De Grieux in Chemnitz) als zukünftigen Puccini-Topstar bezeichnen möchte, der demnächst auf den ganz großen Bühnen dieser Opernwelt singen wird. Doch auch die Nebenrollen waren adäquat besetzt; allen voran Mikael Babjanyan als Marcello, eine ganz große, höchst beeindruckende Stimme.
 
Doch auch der Rest der Truppe, Schaunard (Tobias Scharfenberger), Colline (Almas Svilpa und die kokette Astrid Kropp-Mendez (Musetta) überzeugten nachhaltig. Es war insgesamt ein Boheme-Team von höchster Qualität, welches an diesem Abend auch wirklich grandios zusammenwuchs – ein Ausnahmeabend (?) oder die mittlerweile schon fast gewohnte Spitzenqualität am Aalto? Nach den Berichten des Kollegen Ochalsky (Siehe OF: Essen Aalto WA) über die jüngsten Wiederaufnahmen, ist letzteres anzunehmen. Was ist das für ein Opernhaus geworden! Vielleicht zusammen mit Frankfurt Deutschlands zur Zeit bestes Theater, betrachtet man das gleichbleibend hohe Niveau. Dazu Gratulation an Stefan Soltesz!
 
Irina Oknina ist eine Mimi von geradezu zerbrechlicher Statur und Schönheit, wie eine zarte Elfenbein-Ballerina, justament einem Kleinod von Spieluhr entsprungen. Ich habe selten in einem Bohème-Finale ein so viele Taschentücher zückendes Publikum erlebt. Ihre Piani sind wunderbar und selbst in den großen Ausbrüchen hat sie ihre Stimme tadellos im Griff; eine große Rolleninterpretation, die anrührt – da bleibt kein Auge, auch nicht das des Kritikers trocken. Das ist Puccini in höchster Vollendung. Wir leiden mit, wir sterben mit ihr. Und wenn sie zum Schlußbild unter einer riesigen Sonnenblume stirbt, worauf sich die Bühne in einer fast filmischen Blende schließt, nachdem vorher die Künstler schon auf ähnliche Weise im Schnee verschwanden, fällt uns erst einmal das laute Klatschen schwer. Umso größer der finale Jubel für eine Opernproduktion von 1997 – als hätten wir gerade die Premiere erlebt. Einfach zeitlos ist diese grandiose Meisterinszenierung von Regisseur Silviu Purcarete, die für die Wiederaufnahme aufgebürstet wurde, als wäre es eine Neupremiere – alle Achtung! Stehender Applaus und ein begeistertes Publikum, welches an der MET oder der Scala sicherlich keine bessere Aufführung erlebt hätte; einfach Weltklasse.
 
Großen Anteil an diesem fantastisch guten Abend hatte natürlich wieder einmal das Orchester der Essener Philharmoniker. Unter der Leitung des überragenden spanischen Dirigenten Guillermo Garcia Calvo blühte ein Puccini aus dem Orchestergraben auf, wie man ihn selten hört und wie ihn eigentlich nur Italiener spielen können; wuchtig, phrasiert und in schwelgenden Farben mit allem Rubato versehen, um die Herzen der Zuschauer zu öffnen. Italianita wie von der Academia Nazionale di Santa Cecilia in Rom. Wir fließen dahin im Streicher-Glissando und wenn sich in Mimis großer Arie „Mi chiamano Mimi“ beim „Sola mi fo…“ dann auch noch die riesige Cinemascope-Aalto-Bühne zu einem verschneiten Abendpanorama der Träume über der Skyline von Paris öffnet, während die Traumhäuser in den verschneiten Himmel aufsteigend, verschwinden, sind die Zuschauer im Opernhaus geradezu hingerissen und wir alle tauchen in das Leben der Liebenden ein, beinahe hautnah. Wie in einen Film werden wir schließlich hineingezogen in ein Finalbild, wie es beglückender kaum sein könnte. Die wunderschöne Traum-Bühne von Johannes Leiacker hätte jeden Preis verdient.
 
Daß Alexander Eberles Chöre auf den Punkt fit sind, ist fast immer zu erwarten; bewundernswert aber auch hier die unprätentiöse Darstellungskunst der Damen und Herren, die sich immer wieder perfekt in die unterschiedlichsten Regiekonzepte integrieren. Kinderchöre, die nicht nervig sind, fand ich bisher nur in Essen; immer wieder eine Freude. Auch hier gute Arbeit.
 
Nach den finanziellen Querelen um die Oper stellt sich mir immer wieder deine Frage:
Wissen die lokalen Politikergrößen eigentlich um die internationale Qualität ihres Hauses? Wenn ja, dann sollte man nicht übers Sparen reden, sondern sich ein Beispiel an Düsseldorf nehmen, wo der Opern-Etat gerade erst erhöht wurde. Was müssen die Künstler eigentlich noch an Leistung erbringen, daß man endlich in Essens politischer Führungsriege stolz auf sein Ausnahme-Haus wird?
 
Fazit: Der OPERNFREUND gibt volle 5 Sterne für einen Traumabend.