Schlechte Karten

von Karl Otto Mühl
Schlechte Karten
  
Natürlich habe ich seit über vierzig Jahren mit ihr und dem Vater zu tun, nämlich, seit beide in kurzem Abstand nacheinander gestorben sind. Ich führe oft Gespräche mit ihnen. Manches würde ich gerne nachholen. Etwa so, daß der Sohn vor sie tritt, den Arm um die Schultern seiner Frau gelegt, und sagen würde: Mutter, das ist sie. Wir kümmern uns um dich.
Aber so war es nicht. Der Sohn hatte  keine Frau, und er hing wie ein Kind an seiner Mutter, die er ein Leben lang zu verlieren fürchtete. Die Gefahr des Verlustes bestand wirklich seit vierzig Jahren. Damals war er Sechs, der Vater dienstlich seit Monaten in einer anderen Stadt.
 
Der Vater hatte ihr einen Schallplattenkasten mit Arm geschickt, und auf dem wurde immer wieder „Träumerei“ von Schumann gespielt. Mit diesem Kasten, mir und einem halben Dutzend Nachbarskindern zog sie in den nahen Tannenwald. Wir setzten uns auf den nadelbedeckten Waldboden, der Kasten jammerte vor sich hin. Sie trug eine weiße, kurzärmlige Bluse, das kann ich auf einem Foto sehen, das ich noch habe und von dem ich nicht weiß, wer es geknipst hat.
Der Waldboden war schon kühl. Das war der Grund, daß sie am nächsten Tag erkältet war und fieberte. Das Fieber nahm täglich zu. Plötzlich bekam sie heftige Gelenkschmerzen, konnte nicht mehr aufstehen. Es blieb ihr und mir nichts übrig, als in die Zweizimmerwohnung der Schwiegermutter zu ziehen, die in einem grauverputzten Arbeiterhaus lebte, das noch heute steht.
 
Das aber war vor achtzig Jahren. Es besuchte sie Dr. Bär, ein freundlicher, jüdischer Arzt, aber ich weiß nicht, ob er viel für sie tun konnte. Ihre Schultern wurden in Watte eingepackt, aber die Schmerzen hielten noch länger an. Sie lag auf dem Sofa in der Wohnstube, ich auf der hölzernen Eckbank am Fenster. Während der ganzen Nacht hörte ich ihr Stöhnen. Ich war froh, wenn der Morgen kam und die Großmutter Babette einen großen Becher Kathreiner-Kaffee brachte. Ich glaube, es hat mir gegen die Langeweile gereicht, den ganzen Tag durch das Fenster im fünften Stockwerk nach unten zu blicken, auf die Leute, die vorbeigingen, auf die Kleingärten, auf den grünen Ludwigs-Donau-Main-Kanal, in dem ich schon oft auf dem Rücken meines Vaters geschwommen war.
Als ihre Schmerzen abgeklungen waren, gingen wir in unser kleines Einfamilien-Reihenhaus zurück. Aber meine Mutter hatte jetzt einen Herzklappenfehler, der sie für ihr Leben zu einem Herzkrüppel machte. Das hat sie nicht daran hindern können, ihr Leben lang zu arbeiten, daheim, im Krieg als Leiterin eines Fischgeschäfts, und stets im lebhaften Kontakt mit Freundinnen und Bekannten. Mein Vater war treu, aber mürrisch, die Leute verstanden jedoch auf dem Umweg über sie, daß er liebenswert war.
 
Als Kindermädchen in den Zwanziger Jahren hatte sie nur einen Abend in der Woche frei, und da ging sie ins Kino. Ein Wunder, daß sie einen Mann fand, das wurde mein Vater. Aber eigentlich mußten sie sich immer schon gekannt haben, so kam es mir vor. Nicht, daß sie es mir so ausführlich erzählt hatte, aber ich kannte ihre Vergangenheit als wäre es meine aus vielen, kurzen Erwähnungen. Ich sehe sie noch heute vor mir als barfüßiges Mädchen in der Oberpfalz. Sie hat im Wald mit anderen Kindern Beeren gesammelt, da kommt der Förster heran. Die Kinder stellen sich an den Wegrand und grüßen aufmerksam. Barfuß geht sie in die Klosterschule. Wenn sie geschwatzt hat, muß sie die Hände ausstrecken, und die Ordensschwester schlägt mit einem Stock darauf. Sie wohnt mit der Mutter bei der Tante, bis die Mutter einen Mann findet, der sie heiratet. Er ist Porzellanmaler und lernt sie in der Porzellanfabrik kennen, wo sie als Packerin arbeitet.
In der Schule bekommt meine Mutter, das uneheliche Kind, in jedem Fach eine Eins, nur nicht im Singen. Zwar singt sie hingebungsvoll, am liebsten das Lied von der Gärtnersfrau, die weint, aber angeblich stimmen die Töne nicht. Als die Schulzeit zu Ende geht, möchte der Lehrer sie auf ein Lehrerseminar schicken, aber der Pfarrer ist dagegen. Ihm mißfällt, daß der Stiefvater, ein Sozi, inzwischen Vorstand im Konsumverein geworden ist, und außerdem ist sie ein uneheliches Kind, das immer erst beliebt sein muß, ehe es so mitmachen darf wie alle anderen. Also wird nichts daraus, sie muß in die Fabrik.
 
Das alles scheint nicht zu schaden. Sie ist und bleibt ein fröhlicher Mensch, der über alles in der Welt Bescheid weiß, und zwar von Natur aus. Was sie nicht erfährt oder liest, denkt sie sich aus. So ist auch ihre Mutter. Die hat schon Preise gewonnen für Werbeverse, die sie bei Wettbewerben von Firmen eingesandt hat. Großmutters Vorfahren machten zwar keine Verse, aber sie zogen mit dem Malersack auf dem Rücken von Kloster zu Kloster und boten ihre Kunst an. In manchen Klöstern der Oberpfalz ist sie heute noch zu sehen.
Meine Mutter bleibt nicht lange Packerin, sondern geht als Kindermädchen zu einer Fabrikantenfamilie in die Großstadt. An einem Kino-Abend, dem einzig möglichen in der Woche, lernt sie ihren Mann kennen. Er hat schon früh seine Haare verloren, aber er hat blitzende Zähne, einen Bausparvertrag und ist ein zuverlässiger Maschinenschlosser. So beginnt das nächste große Abenteuer ihres Lebens. Schon bald lernt sie noch einen wichtigen Menschen kennen, nämlich mich.
 
Ich erlebe nichts, was sie nicht miterlebt. Ich bin das einzige Kind, und sie ist nun auf lange Jahrzehnte hin nur Hausfrau in einem kleinen Haushalt, und dazu noch krank; mein Leben ist ihre Zukunft, und ihre Unternehmungen gipfeln im Umräumen von Schränken oder in Koch-Experimenten. Und dennoch sehe ich heute, daß sie es weit gebracht hätte, wenn sie auch nur die geringste Chance gehabt hätte.
Ich hatte die Überzeugung, daß ich der Einzige war, der ihr Herz besaß. Mein Vater war ein stiller Mann, der meistens etwas gekränkt wirkte. Meine Überzeugung wurde nicht dadurch beeinträchtigt, daß ich sie und ihn sonntagmorgens fröhlich schwatzend nebeneinander im Doppelbett liegen sah, daß sie sonntags zusammen spazieren gingen, daß sie Abend für Abend in der kleinen Dachkammer beieinander waren. Das schien mir so selbstverständlich wie der Sonnenaufgang und es beeinträchtigte, wie gesagt, meine Überzeugung nicht. Es machte die Welt ein wenig sicherer. In Krankheitsphasen war ich freilich immer der Erste, der den Arzt holte oder sie später bei Herzanfällen ins Krankenhaus schaffte.
 
Aber wir waren freilich auch Rivalen, der Vater und ich. Ich war der bessere Beschützer, glaubte ich, tat mehr für sie, beschützte sie tatsächlich auch nicht selten vor seiner Ruppigkeit und Rücksichtslosigkeit. Bis in die Nachkriegsjahre teilte er ihr das Wirtschaftgeld zu. Es bedurfte langer Verhandlungen, bis ich ein paar neue Schuhe bekam. Aber ich sah auch nicht, daß er der getreue, stille Eckhart war, der bescheidene Mann, der auf Auseinandersetzungen mit dem besserwisserischen Sohn verzichtete. Er hätte mit bescheideneren Mitteln auf geduldige Art auch für sie gesorgt. Ich war ein Muttersohn, jedoch einer, der das tat, was er für richtig hielt oder nicht lassen konnte, aber schließlich doch der Sohn meiner Mutter, der von ihr das Leben gelernt hatte.
 
Es kam der Zweite Weltkrieg. Der Sohn blieb für viele Jahre weg, der Mann blieb da. Die Stadt wurde zerbombt, Tausende starben. Die verbrannten und geschrumpften Leichen lagen am Straßenrand, der Mann mußte zum Aufräumkommando. Sie leitete dieses kleines Fischgeschäft. Manche Freunde berichteten später von dem einen oder anderen kleinen Fisch, den sie ihnen zugesteckt hatte.
 
Und dann, nach vielen Jahren, hatte sie wieder einmal einen richtig lebensbedrohenden Anfall. Wasser hatte sich im Lungenraum angesammelt. Sie verdrehte die Augen und verlor das Bewußtsein. Der Sohn rannte im Laufschritt drei Kilometer weit, um den Arzt zu holen. Im Hause hatte damals niemand Telefon. Das Krankenhaus hatte keinen Platz, aber für einen Privatpatienten eben doch. Der Sohn hatte einige hundert Mark Erspartes, die reichten und verschafften ihr einen völlig anderen sozialen Status. Chefarzt und Oberärztin standen lächelnd an ihrem Bett, Schwestern verwöhnten sie, und gerettet war sie auch. Eine lange Periode der Unsterblichkeit lag vor ihr, dem Mann und dem Sohn, die Sonne strahlte in das helle Krankenzimmer. Als sie wieder in ihre Wohnung zurückkehrte, sagte die Nachbarin zu ihr: „Für Geld blasen sie dir Zucker in´n Asch.“
 
Nie mehr fiel sie zurück in das Lebensgefühl des rechtlosen, unehelichen Mädchens aus der Oberpfalz. In den kommenden Monaten fuhr ich sie fast täglich mit dem Auto, das ich von der Firma bekommen hatte, nach Dienstschluß und am Wochenende durch die schönsten Landschaften. Sie schaute mit glänzenden Augen hinaus und freute sich.
Und dann geschah es doch. Sie bekam Fieber, die Verdauung funktionierte nicht. Einlauf, Abführmittel, nichts half. Wieder kam sie ins Krankenhaus, und dort fand man erst heraus, was sie schon seit Jahren als zweite, schwere Krankheit hatte – Darmkrebs. Der Arzt hatte es nicht erkannt. Schon zwei Stunden nach ihrer Einlieferung wurde sie operiert. Draußen warteten Mann und Sohn. Der Arzt kam heraus und sagte: „Wir haben sie gleich wieder zugemacht. Es war schon alles schwarz.“
„Wie lang hat sie noch zu leben?“ fragte ich.
„Höchstens noch bis morgen.“
Der Vater und ich saßen an ihrem Bett, als sie am Nachmittag langsam erwachte. „War es Krebs?“
„Ach, Unsinn!“ sagte ich empört. „Nur Darmverschluß.“ Sie nickte lächelnd und beruhigt. Es war besprochen worden, daß sie keine Herzmittel bekommen sollte, aber Dolantin. Ich hoffe, es hat sie glücklich gemacht. Bevor sie am Abend einschlief, bestand sie noch darauf, daß Vater und ich mit Essen und Tee versorgt wurden. Dann fuhren wir in meinem kleinen Auto nach Hause, bis ein Anruf kam – „es wird bald zu Ende sein“.
Sie war bewußtlos, atmete schwerer und mit immer größeren Intervallen. Der unentbehrlichste Mensch auf der Welt starb. Als sie zu atmen aufgehört hatte, gingen wir hinaus – ich kehrte an der Türe noch einmal um, küßte sie auf die Stirn und flüsterte ihr etwas zu.
 
Wieder fuhren wir nach Hause. Trostlosigkeit im Gesicht meines Vaters, dem das Licht seines Lebens genommen war; mir liefen die Tränen über die Wangen. Heute erinnere ich mich an den Satz eines jüdischen Emigranten: „Ich bin jetzt Neunzig, aber die Mutter fehlt mir immer noch.“
 



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2010
Redaktion: Frank Becker