Präzise, menschliche Analysen

Ferdinand von Schirach - "Schuld"

von Frank Becker
Schuld

Mit seinem ersten Buch "Verbrechen" gelang dem Strafverteidiger Ferdiand von Schirach ein auf dem übersättigten Buchmarkt geradezu sensationeller Erfolg. Seine Fallbeschreibungen aus der juristischen Praxis eröffneten durch ihre präzise menschliche Analyse dem Leser die Möglichkeit, Verbrechen besser zu verstehen, sofern dies überhaupt möglich ist. Nach seinem Erstling vor ziemlich genau einam Jahr blieb gar keine andere Möglichkeit: er mußte diesen in literarisch höchster Qualität brillant verfaßten, aufwühlenden Tatsachen-Berichten weitere folgen lassen.

Von Schirach kann sich - ich erwähnte es in der damaligen Rezension - mit ebenfalls als Autoren hervorgetretenen Größen seiner juristischen Branche, ich nenne nur
den legendären Strafverteidiger Dr. Erich Frey, ohne Epigonentum vergleichen. Mehr noch: Ferdinand von Schirach hat einen völlig eigenen Weg gefunden, über Verbrechen zu berichten, einen Stil der präzisen Sachlichkeit, der ihm auch in der Kriminologie einen hohen Rang einräumen dürfte. Denn diese auf dem Boden der Psychologie fußende Wissenschaft ist ja darauf angewiesen, auf die empirisch erworbenen Resultate eben solcher Fachleute zugreifen zu können.

In "Schuld", einem Buch, das dem mitfühlenden Leser trotz oder vielleicht gerade wegen aller Sachlichkeit den Schlaf rauben kann, schildert von Schirach 15 Fälle, die - und das macht einen so wichtigen Teil ihrer Realität aus - nicht unbedingt zur gerechten Verurteilung der Täter geführt haben. Er schildert empfindsam das Zustandekommen von Gewalttaten von Menschen gegen andere Menschen, die man mit dem "normalen" Verstand nicht glaubt verstehen zu können. Das Buch mit einem schrecklichen Fall von Vergewaltigung zu beginnen, ist mutig, zumal weil eben gerade bei diesem spekt
akulären Verbrechen durch die Arbeit der Verteidiger - einer war der Autor - die Täter ungeschoren davon kamen. Von Schirach bekennt sich, und deshalb steht dieser Fall wohl auch am Anfang, darin recht direkt zu einer schweren moralischen Schuld, die Anwälte auf sich laden, wenn sie Täter wie diese vor einer Verurteilung bewahren: "Nach der Haftprüfung gingen mein Studienfreund und ich zum Bahnhof. Wir hätten über den Sieg der Verteidigung sprechen können (...). Aber wir saßen auf der hölzernen Bank (...) und keiner wollte etwas sagen. Wir wußten, daß wir unsere Unschuld verloren hatten (...).

Bei dieser Lektüre ging mir wieder durch den Kopf, daß das sicher nicht nur nach meiner Auffassung noch immer zu milde bestrafte Verbrechen der Vergewaltigung längst durch eine Reform des Strafrechts wie Mord bestraft werden müßte. Doch auch ein ebenso grausamer Fall, ein durch kindliche Lügen verursachtes Fehlurteil wegen angeblichen Kindesmißbrauchs gegen einen Unschuldigen raubte mir wörtlich zu nehmen nach der Lektüre den Schlaf. Ob Sexualverbrechen, Mord, Totschlag, sinnlose brutale Jugendgewalt oder ein Fall eines verzweifelten Verbrechens zur Verhinderung einer noch schlimmeren Tat - Ferdinand von Schirach hält Gefühl und Verstand seiner Leser in Atem.
Es ist keine Unterhaltungsliteratur, bitte nicht! Doch es ist große, wichtige Literatur. Ferdinand von Schirach und seine Bücher verdienen unsere Auszeichnung: den Musenkuß.

Beispielbild

Ferdinand von Schirach
Schuld

© 2010 Piper Verlag

200 Seiten, geb. m. Schutzumschlag
17,95 €

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