Schnuppa ma, isset det...?

Ein bißchen zu viel Lack und Gummi in Benjamin Tafels & Dennis Orels - "Berliner Luft"

von Frank Becker

Schnuppa ma, isset det...?



Ein bißchen zu viel Lack und Gummi

"Also weeste, unsa Berlin hat so ville Jesichter, die passen eijentlich jar nich alle in een Buch rin, ßumal, wenn et in den Ausmaßen nich ma einem halben Ziejelstein entspricht. Na ja, ick will denn doch ma sehn, jib einfach ma her, die Klamotte..."


So oder ähnlich könnte sich vielleicht ein echter Ureinwohner, ein Eingeborener unserer Hauptstadt zu dem Angebot äußern, seine Heimat mal aus einem etwas anderen Blickwinkel kennenzulernen - sein Berlin, das im vergangenen Jahrhundert erst durch einen sinnlosen Krieg fast völlig zerstört, dann durch Stacheldraht und Mauer geteilt wurde und dessen West-Teil für 45 Jahre eine stolze Insel war, während im Ost-Teil der Kommunismus versuchte, einen neuen Menschen zu formen. Ein echter Berliner eben, dessen Charakter die Zeitläufe mit ihren Bomben und Kommunisten nichts anhaben konnten - aber die werden ja immer seltener. Da müssen jetzt sogar schon Schwaben her, um ein fotografisches Portrait dieser eigenwilligen und liebenswerten Stadt zu skizzieren, die nun seit 20 Jahren peu á peu wieder zusammenwächst. Benjamin Tafel und Dennis Orel - eben keine Berliner, sondern Stuttgarter wohlgemerkt! - haben den recht wagemutigen Versuch unternommen, Berlin und seine Einwohner anders als üblich in Fotos und Texten zu portraitieren. Für meinen Geschmack sind sie dabei ein bißchen zu sehr durch Bordelle und Bratwurstbuden, über Lack und Gummi, durch Spelunken und Ruinen gestolpert. Die Gosse und die Freaks sind auch in Berlin da, na klar - schrill, bunt, laut, plakativ, aber sie sind nicht Berlin.

"Nee", würde der Eingeborene sagen, "nee, det ist nich mein Berlin. Jehnse weg".

Abgesehen davon aber ist
Benjamin Tafel & Dennis Orel mit "Berliner Luft", ein wirklich originelles und ideenreiches Buch mit zum Teil hervorragenden Fotografien gelungen, das zu Beginn zwei ältere Herren noch bei Tage bei ihrer Tour mit der "Rennpappe", ihrem Trabant 601 durch Berlin zeigt. Aber die gesellschaftlichen Randgebiete der überwiegend nächtlichen Stadt gewinnen sehr schnell die Oberhand. "Berlin is och nicht mehr det, wat es mal war" heißt es nicht ganz korrekt berlinerisch auf der vorderen Innenklappe des Umschlags. Diese Weisheit ist so alt wie Spree-Athen. Aber was Tafel und Orel in ihrem immerhin grell-amüsanten Buch zeigen und erzählen, ist (s.o.) nicht das Berlin der Berliner, das ist das Berlin einiger Touristen und Neurotiker, Prostituierten und ihrer Kunden, Trinker und Türken, DDR-Nostalgiker und Kiez-Romantiker. Es ist allein schon der gezeigten Örtlichkeiten  wegen natürlich Berliner Luft, die durch die Seiten und Bilder weht, aber beinahe all das könnte auch in Gelsenkirchen oder Bielefeld, Frankfurt/M. oder München, Dresden, Magdeburg oder Bochum stattfinden. Nein, Berlin ist das nicht.

"Und ma ehrlich , möchste in eena Stadt leben, die sich durch sone abjedrehten Orte und Typen definiert? Also ick nich!", sagt unser Berliner nach tiefem Luftholen und einem noch tieferen Seufzer. Aber er liebt sein Berlin, sein Viertel, seine Straße und ist gerne dort - weil es eben nicht so ist, wie Tafel und Orel es vorführen. Weil sein Berlin immer noch nach Wannsee und U-Bahn duftet (deshalb, Frau Heidenreich, werden auch Sie nie Berlin verstehen), nach Grunewald und Müggelsee, nach Maibowle, Weiße mit Schuß und Kartoffelpuffern, Teltower Rübchen, Unter den Linden, Bürgerpark, Hansaplatz und Schlesisches Tor.


© Hatje Cantz

Benjamin Tafel & Dennis Orel – „Berliner Luft“
Gestaltung von Dennis Orel und Benjamin Tafel
© 2010 Hatje Cantz
256 Seiten, 168 farbige Abb., 21,10 x 14,00 cm Klappenbroschur
Deutsch/Englisch ISBN 978-3-7757-2616-0, 16,80 €
 
Weitere Informationen unter: www.hatjecantz.de