Der Unfall

Eine erotische Erzählung

von Hermann Schulz
Der Unfall
 
Ein Mann, nennen wir ihn P., besuchte in Begleitung seiner Ehefrau den Nordosten Brasiliens. Es war ihre erste Reise in ein tropisches Land. Der Anlaß war die Einladung eines befreundeten Ehepaares, das vor Jahren dorthin gezogen war und dem sie versprochen hatten, es  irgendwann einmal zu besuchen.
P. wollte, im Gegensatz zu seiner Frau, gern ein bißchen mehr vom Innern des Landes sehen. So begleitete er seinen Freund K., der in einer entfernten Gegend des Nordostens etwas zu erledigen hatte, in dessen Volkswagen auf einer Tagesreise.
Sie brachen im Morgengrauen auf. Der Tag wurde anstrengend, heiß und staubig. P. mußte häufig auf seinen Freund, der in irgendwelchen Häusern verschwand, um seine Angelegenheiten zu erledigen, warten. Es gab kaum kalte Getränke und sie hatten auch kein passendes Restaurant gefunden. So verspürte P., als sie sich am Nachmittag auf den Heimweg machten, Anspannung, Ermüdung und Wachheit zugleich, wie es gelegentlich vorkommt, wenn viel Neues, Unbekanntes und Fremdes auf einen einstürmt.
 
Auf der endlosen Überlandstraße des Nordostens fuhren sie schweigend vor sich hin, bis in der Ferne ein Rasthof sichtbar wurde und schnell näher kam. Es handelte sich um eine Bar; früher war hier wohl auch noch eine Reparaturwerkstatt gewesen, denn rostige Autowracks und alte Reifen lagen herum, wild überwuchert von wilden Gräsern, Büschen und Brennesseln.
P. schlug vor, hier einzukehren. K. zögerte zunächst, willigte aber schließlich ein. Der Eingang zur Bar hatte einen bunten Perlenvorhang, Musik spielte, im Innern war gedämpftes Licht. An der Bar standen gelangweilt junge Mädchen, andere saßen an den Tischen und spielten Karten. Ein fetter Mann saß auf einem Hocker hinter dem Tresen.
Das Eintreten der beiden Männer war eine Erlösung aus dem ereignislosen, dumpfen Nachmittag. Zu seiner Verwunderung bemerkte P., daß sein Freund hier durchaus bekannt war. Die Mädchen fielen ihm um den Hals und küßten ihn, drehten die Musik lauter, riefen nach Getränken und bald war der Raum von Lachen und Musik erfüllt. P., der zunächst unsicher an der Theke geblieben war, wurde in das jetzt beginnende Fest einbezogen. Sie fragten nach seinem Vornamen, führten ihn sanft auf die Tanzfläche und eine der Frauen in einem gelben Kleid legte beim Tanz beide Arme um seinen Hals. Aus den hinteren Räumen wurden Teller mit Speisehappen und Früchten gebracht, P. mußte den besonderen Schnaps probieren, der in dieser Region gebraut wurde, während eine der Schönen die Arme um seine Hüfte gelegt hatte, so als gehöre er zu ihr für alle Zeiten. Er entledigte sich seiner Jacke, bald war sein Hemd geöffnet und er spürte beim Tanz die Körper der jungen Frauen. Der Schweiß  lief in Strömen, die Berührungen wurden enger und heftiger. Schließlich tanzte man, um die  kühlere Luft des beginnenden Abends zu nutzen, auf den hinteren Hof hinaus. Dort sah P. seinen Freund mit zwei Frauen in einer Hollywood-Schaukel sitzen, das Gesicht gerötet von Alkohol und Hitze. Sie protesteten sich mit vollen Gläsern übermütig zu, ohne von ihren jeweiligen Partnerinnen freigegeben zu werden, die sich mit Lippen und Händen an P.s und K.s Ohren, Hals und Brust zu schaffen machten.

P. fühlte sich, als habe er das Leben neu entdeckt. Eine sentimentale, aber ernste Dankbarkeit durchströmte ihn. Jetzt fand das Leben statt - und nicht wie sonst in der Erinnerung an Vergangenes.  Diese Dankbarkeit richtete sich an das Leben ganz allgemein; Betrunkene sind, wie ein russisches Sprichwort sagt, Gott näher.
P.  wollte, um den Augenblick für alle Zeiten festzuhalten, fotografieren. Der Vorschlag wurde lauthals begrüßt, Sektkorken knallten und alle versammelten sich vor dem Eingang, um das letzte Licht des schwindenden Tages zu nutzen. Die letzten Sonnenstrahlen lagen golden auf den Autowracks und den Gesichtern der schwankenden und sich umarmenden Menschen. Der Dicke bequemte sich, die Fotos zu machen, die beiden Männer gingen fast unter im Gewirr von Armen und Körpern. Schließlich gingen sie in die oberen Räume zu einer Ruhepause.
 
Es war dunkel, als sie ihr Auto wieder bestiegen. Einige der Frauen weinten beim Abschied, auch P. konnte nicht umhin, sich die Tränen abzuwischen, als er letzte Küsse tauschte. Sie fuhren in die Nacht hinein, schweigsam nach dem Erlebten, ermüdet und wach zugleich. Als sie durch die Vorstadt von Salvador fuhren, ereignete sich ohne ihre Schuld ein Unfall. Ein Betrunkener taumelte auf die enge Straße, K. riß das Steuer herum, um auszuweichen, lenkte dabei aber den Wagen gegen eine niedrige Mauer. Beide Vorderräder wurden in Blech und Eisen eingeklemmt, an ein Weiterfahren war nicht zu denken.
K. war beim Aufprall heftig mit dem Kopf gegen die Scheibe geschlagen. Er blutete und sie banden ihm ein Unterhemd um die Stirn. P.s Knie schmerzten höllisch, sie waren beim Aufprall gegen das Handschuhfach geknallt.
Sie hatten Glück im Unglück, daß kein Polizist in der Nähe war. So machten sie sich auf den Heimweg und erreichten nach einer guten Stunde Fußmarsch das Haus, in dem K. mit seiner Frau und seinen beiden Kindern wohnte.
Das Entsetzen der Frauen beim Anblick der beiden heimkehrenden Männer war groß. Sie hatten Verständnis dafür, daß beide, wie sie erzählten,  nach dem Unfall eingekehrt waren, um auf den Schreck einen zu trinken, und widmeten sich jetzt mit aller Fürsorge den Verletzungen und der Pflege ihrer verunglückten Helden.
K. wurde auf ein Sofa gebettet, seine Stirn sorgfältig ausgewaschen, dann bekam er einen Verband und einen Eisbeutel zur Kühlung.
P. saß in kurzen Hosen in einem Sessel. Seine Knie waren angeschwollen und gerötet. Nach einer wohltuenden Dusche fiel jetzt die Anspannung langsam von ihm ab
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Als die beiden Frauen die Krankenpflege unterbrachen, um in der Küche das Essen zu bereiten, trat Schweigen ein. Die Männer sahen sich an. Dann griff K. neben sich zur Fototasche, nahm den Film aus der Kamera und zog den Streifen langsam, sehr langsam aus der Rolle. Als er am Anschlag war, ließ er das Zelluloid zu einer unförmigen Schnecke zusammenschnellen und in die Fototasche fallen. Er sah P. an, zuckte bedauernd die Schultern und drehte sich zur Wand.



© Hermann Schulz - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007