Vom Anderswo der Malerei - Anders

Zur Eröffnung der Ausstellung: Frank Hinrichs, >Heterotopien< Galerie Schreier & von Metternich, Düsseldorf

von Andreas Steffens
  Vom Anderswo der Malerei - Anders

Zur Eröffnung der Ausstellung: Frank Hinrichs, >Heterotopien<
 Galerie Schreier & von Metternich, Düsseldorf, 10.12.2010
 

Geheimnisvoll : was sich den Blicken preisgibt, ohne sich zu enthüllen.
Maurice Blanchot, Warten Vergessen

 

I
Wenn ich vor einem Bild stehe, spricht es besser als ich, schreibt Jules Renard am 8. Januar 1908 ins Tagebuch.
Kann ein Philosoph diesen Satz gelten lassen?
Unter der einen Bedingung, dass er sich bemüht, mit eigenen Mitteln auszusprechen, was das Bild ihm sagt.
 
II
Ich sitze am Straßenrand
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?
 
Brechts Frage der ersten seiner >Buckower Elegien<, „Der Radwechsel“, trifft ins Zentrum der Problematik, die alle Bemühungen um menschliches Selbstbewußtsein in Gang setzt.
Nicht nur anders wollen wir sein, auch anderswo als dort, wo wir gerade sind. Unsere Endlichkeit wissend, ohne sie zu kennen, sind wir Wesen des Übergangs. Dass wir sind, setzt voraus, nicht gewesen, sondern geworden zu sein, und hat zur Folge, eines Tages ohne Wiederkehr gewesen zu sein. Jedem Verlassen folgt ein Ankommen, bis zum letzten Übergang. Überall wären wir, seiend, lieber; nur dort nicht, wohin er führt; am wenigsten, von wo aus man zu ihm aufgebrochen sein muss – um sich dorthin zurück zu sehnen, sobald man den Ort erreichte, wohin es einen verlangte, bevor man sich auf den Weg dorthin machte.
Die Sehnsucht nach dem Anderswo macht in der Unablässigkeit der Bewegung, zu der sie nötigt, immobil. Ständig unterwegs, gibt es für sie kein Ankommen. Die Sehnsucht nach dem anderen Ort ist das Symptom der Ortlosigkeit eines seiner selbst ungewissen Lebens.
Anderswo - Orte, an die es uns zieht, während wir unentwegt woanders sind, Zonen des Daseins, wo wir gerne wären, und wovon wir uns doch fernhalten müssen, um seinen Boden nicht zu verlassen.
 
III
Auch anders von dem zu sprechen, was uns zeigt, wo wir nicht sind, ist eine Sehnsucht. Die Bilder denkend im Blick, nicht über sie zu reden, nicht zu besprechen, was an ihnen zu sehen ist; stattdessen: auszusprechen, was mit ihnen sichtbar wird. Dem gedachten Bild mit der Poesie des Denkens zu antworten – doppelte Verschwörung der Einbildungskraft gegen die Anmaßung der Wirklichkeit, die das Dasein um seine Möglichkeiten unentwegt betrügt.
 
IV
Die Malerei und das Grab – sie sind die ältesten Zeugnisse des Menschseins. Das Grab – erste Architektur des Menschen noch vor dem Haus, und letzte für jeden Einzelnen.
Der Tod – erstes und letztes Problem des Bewußtseins; die Kunst – erstes und bewährtestes Mittel gegen das Unbegreifliche; die Philosophie - unendlicher Aufschub der Einwilligung ins durch Unergründlichkeit Unzumutbare.
Mal-Kunst, und Denk-Kunst : zwei Gestalten, sich des Ungreifbaren anzunehmen.
Gegenseitige Aufforderung des Malers, des Philosophen aneinander, in seinem Medium dieselben Erfahrungen sich spiegeln zu lassen, die einen zur eigenen Arbeit bestimmen: die tägliche Erfahrung der Übergangsnatur des Menschen.
 
V
Der Tod ist bilderfreundlich, sagt sein Historiker Philippe Ariès - : weil er unbildbar ist. Weshalb sein Geschehen ein Universum an Bildern hervorbrachte. Das Bild entsteht, wo es nichts zu begreifen gibt. Das Denken ist die Verzweiflung der Einbildungskraft, die ihre Grenze erfährt, ohne sie anerkennen zu können; das Bild ist die Verzweiflung des Denkens, das seine Grenze erfährt, ohne sie anerkennen zu können.
Die Wirklichkeit des Todes ist das Ende des einen Daseins, dem er geschieht; ausschließlich für dieses eine besitzt er allein im Moment seines Eintritts die Macht des Wirklichen: Gegenwärtigkeit. Er bleibt Vorstellung, reiner Gedanke, bis er eintritt. Und wird zum verblassenden Bild für Hinterbliebene.
Deshalb werden die Bilder in der elektronischen Bildzivilisation todesfreundlich: sie zeigen nichts mehr, weil sie nichts mehr sind. Statt das Abwesende zu vergegenwärtigen, zeigen sie dessen Ungreifbarkeit. Die Oberfläche des virtuellen Bildes ist das Grab des Gemäldes. Die im Bild des Abwesenden repräsentierte Welt ist zum Kolumbarium ihrer Bewohner geworden: einander unansichtig von Auge zu Auge, begegnen sie einander als unwirkliche Abbilder: Memoriale ihrer selbst; lebendige Todesmasken.
Dagegen rebellieren die Farbmateriehäute der Malerei. Deren Oberflächlichkeit ist so wirklich wie das Material, aus dem die Bilder gefertigt sind, die auf ihnen ansichtig werden.
Das elektronische Netzwerk ubiquitärer Ansichten des Abwesenden ermöglicht einen immobilen virtuellen Sekunden-Tourismus zwischen beliebig vielen Orten: von Mausklick zu Mausklick, von Un-Ort zu Un-Ort, von Abbild zu Abbild des Fernen wechselnd, ist der Bewohner der Bildschirmhöhlen nicht mehr dort, wo er sich aufhält. Sich an die Repräsentanten abwesenden Seins überlassend, gerät er ins Nirgendwo eines ortlosen Dazwischen.
Der Ort, wo man ist, ohne zu sein, aber ist das Grab.
 
VI
Jedes Wort, jedes Bild, beglaubigt Abwesenheit. Anwesend kann nur der sein, der spricht, der, der bildet, und das, womit er spricht, womit er bildet: der Klang der Worte, das Scheinen der Farbmaterie.
So unansehnlich wie der Tod ist, so geschieht die Erinnerung im Unsichtbaren. Erinnerung vergegenwärtigt nicht; Erinnerung klärt nicht auf, sie verdunkelt, sie entrückt. Das einzige, was sie anwesend hält, ist die Sehnsucht nach etwas, das nicht mehr ist. Oder nie war. Erinnerung ist eine andere Gestalt des Vergessens. Sie beschleunigt das Vergehen des Abgeschiedenen in seinem Grab, wie die Konturlosigkeit der Farbe der Bilder, die es assoziieren, die Schriftsymbole des gewesenen Daseins verwischt, das sich zum Strich zwischen den Daten seines Beginns und seines Endes verflüchtigte. Erinnern ist ein langes Warten auf die Vollendung des Gewesenseins.
 
VII
Endlichkeit – der Bindestrich zwischen Geburts- und Todesdatum auf dem Grabstein. Unentzifferbar wie die Abtönungen des Vergessens.
So massiv das Material der wirklichen Grabplatten, so filigran, hauchdünn und zerbrechlich die Materie ihrer malerischen Anspielung. Wie ins Unendliche ausgreifend ins Feinste vermindert, wird der materielle Gegenstand Bild zum Ort der Anwesenheit eines Seins, das es nicht zeigen kann, auf das sein eigenes Wirklichsein jedoch als Wahrscheinlichkeit verweist.
Aber sie tritt nicht zur Eindeutigkeit ins Sichtbare hervor, es bleibt bei verschwommen geahnter Ansichtigkeit, die sich nicht zum Sehenkönnen schärft, und ist dennoch eindeutig identifizierbar - die Materialität des Bildes wird zum Anhalt der Vorstellung eines Raumes, den zu Durchschreiten in die Freiheit des Anderswo gelangen ließe.
Im Schweben des Blicks, dem die Gegenständlichkeit, den er zu entdecken meint, sich beharrlich entzieht, scheint ein Vorblick in unwahrnehmbare Unendlichkeit sich aufzutun – Vorschein der Region hinter der Grenze, die jeder wird passieren müssen, von der niemand weiß, wo sie für ihn verläuft.
Im Bild beinahe erscheinend, ohne sichtbar zu werden, wird das Realsymbol des Abwesenden, des gewesenen Lebens, der Grabstein, zum Bild unmöglicher Vergegenwärtigung.
Wo auch immer wir sind, da wir einst nicht mehr sein werden, gelangen wir an keinem Ort in die Fülle vollendeter Wirklichkeit: wir verharren im Schein dessen, was uns in der Vorläufigkeit des Daseins als möglich aufgegeben ist.
 
VIII
Von der Erfahrung des im letzten Augenblick verhinderten eigenen Todes zum Künstler geworden, der zu erreichen strebt, was er die Philosophie verfehlen sah, schrieb Maurice Blanchot:
„Den Tod vergessen – hieße das nicht wahrhaft sich an den Tod erinnern? Die einzige Erinnerung, die dem Tode entspräche, wäre dann das Vergessen?“ – „Das unmögliche Vergessen. Jedesmal, wenn du vergisst, ist es der Tod, an den du dich dabei erinnerst.“
Den Tod vergessen, auf die Stelle stoßen, wo der Tod das Vergessen nährt und Vergessen den Tod gibt, sich abkehren vom Tode durch das Vergessen und vom Vergessen durch den Tod, zweimal sich abkehren also: eintreten in die Wahrheit der Abkehr.
Das gemalte Kolumbarium macht sie als schwebenden Schein in der Schönheit des Ungewissen sichtbar, die Wahrheit der Abkehr. Mit der Abwendung ist man fast schon dort, wohin es einen zieht, um dem Jenseits solange zu entgehen, bis es dafür Zeit geworden ist, immer wieder, und noch einmal: Anderswo.