Kein Halt – auch nicht für den Leser

Hans Sahl - "Die Gedichte" - "Die Wenigen und die Vielen", Roman

von Martin Hagemeyer
Kein Halt –
auch nicht für den Leser
 
 
Das Werk Hans Sahls (1902-1993) hat bis heute nicht Eingang unter die Klassiker der Exilliteratur gefunden; aber an mangelnder Relevanz für das Thema „Exil“ kann das nicht gelegen haben. Eine Neuausgabe im Luchterhand Literaturverlag bietet nun genug Gelegenheit, das festzustellen.
In Prosa und Lyrik präsentiert und reflektiert Sahl die Situation exilierter Schriftsteller – ein Los, das er selbst teilte. Er wurde 1902 als Sohn jüdischer Kaufleute in Dresden geboren; in Berlin machte er sich in den Zwanziger Jahren einen Namen als Theater- und Filmkritiker. 1933 mußte er Deutschland verlassen, wobei er später Wert darauf legte, daß dies politische Gründe hatte. Er floh zunächst nach Prag, dann nach Zürich und Paris. Nach Internierung in Frankreich im Weltkrieg gelangte er über Lissabon im April 1941 nach New York, das, von einigen Jahren in Deutschland abgesehen, bis Ende der Achtziger Jahre sein Aufenthaltsort blieb; er sah sich vergessen und unerwünscht. Erst 1989 siedelte Sahl wieder in sein Heimatland über, wo er am 27. April 1993 in Tübingen starb.
 
Der Band „Die Gedichte“ bei Luchterhand vereint noch vom Dichter selbst zusammengestellte Lyrik und Unveröffentlichtes. Ein Blick zeigt: Sahl fand für das Thema Exil sehr unterschiedliche lyrische Formen – besser sollte man vielleicht sagen: Er suchte sie.
 
Ein Beispiel von 1962 aus dem Teilband „Wir sind die Letzten“:
 
Klostergut Fremersberg
 
Der tigergelb gefleckte Herbst
Steht steil am Hang und laubbedeckt.
Weinstöcke bilden mir Spalier,
Der ungesehen Einkehr hält.
 
Es ist so still hier wie noch nie.
Ich setze mich zu kurzer Rast,
Und langsam atmet aus mein Ich
Ein Herz, das voller Fremde war.
 
Aus einem Schornstein kommt noch Rauch.
Hier sitzt ein Gast am Tisch und speist.
Die Luft ist sonderbar und weich
Und wie mein Herz, das weiterreist.
 
Nicht nur die äußere Form erinnert hier ans Volkslied (trotz Freiheiten beim Reim) – auch inhaltlich wird ein (flüchtiges) Idyll gezeichnet: Das lyrische Ich hält inne nach ruheloser Fahrt, wie sie für einen ewigen Exilanten typisch ist – und ein solcher ist und bleibt es; daran besteht („kurze Rast“, das Herz „reist weiter“) kein Zweifel. Das Gedicht entspricht Sahls eigener Haltung zum Exil: Auch nach dem Ende der Verfolgung empfand er sich als Fremder; es wurde ihm zum Zustand.
Doch ist dies nur eine von vielen Ausdrucksmöglichkeiten, die Sahl für sein Thema Exil (und andere) wählt. Da findet sich Gedankenlyrik ohne erkennbare Regeln (Gedichte schreiben – oder was davon noch übrig blieb: „Lyrik in unserer Zeit / Kann nur ephemer sein.“), andererseits wird mit Sonetten eine strenge Form erprobt (An die Freunde). Getragenes (Männer: „Und die trauernden Äste beschatten düster das Bild / Rauchender Klumpen, gepaart mit Elfengebeinen“) steht neben
Wortspielereien, die man eher bei heutigen Poetry-Slammern vermuten würde (Das Lied vom Tonfilm:
„Zähne fletschen und Keep Smiling, / Wenn die Seele auch entzwei ging“). Vielfalt oder Unentschlossenheit?
 
Nun ist kein Gedichtband verpflichtet, einheitlich zu sein. Uneinheitlich erscheint allerdings auch Sahls Beitrag zu einer Gattung, von der man größere Kohärenz erwarten könnte: sein Roman „Die Wenigen und die Vielen“. Stark autobiographisch geprägt, stellt er das Exilantenschicksal des Schriftstellers Georg Kobbe dar, der wie Sahl unter anderem in Paris und schließlich in New York Zuflucht findet. Über weite Strecken wird dieser dabei von einer traurigen Schauspielerin begleitet , die schließlich nach Kriegsende wieder Deutschland ansteuert, während Kobbe in Amerika bleibt. Man folgt diesem Mann, wie er durch die Straßen von New York irrt, wie er überall auf die gleichen Schicksalsgenossen trifft, wie er sich mit den Kommunisten entzweit (als einer der titelgebenden „Wenigen“, die an den großen Bewegungen der „Vielen“ zweifeln).  Am Beispiel Kobbes  und seiner wie er halb-fiktiven Mitmenschen führt Sahl mit großer Eindringlichkeit generelle Aspekte des Exils vor: etwa die erzwungene Untätigkeit durch die Unmöglichkeit, zu publizieren – wie in dem Kapitel über einen Treffpunkt der Auswanderer in Paris, der von allerlei seltsamen Gestalten bevölkert wird: „Es sind verschämte Arme, alt gewordene Phantasten, die sich noch nicht ganz zu ihrem Künstlerpech bekennen wollen und auf irgend etwas warten.“
Es gibt viele Stellen wie diese – man ist versucht zu sagen: Einzelszenen. Von manchen Gestalten hätte man gern mehr erfahren, doch der Autor gönnt ihnen (und dem Leser) nur ein oder zwei kurze Auftritte. Die Handlung springt hin und her zwischen der New Yorker Gegenwart, Erinnerungen an die Kindheit, Tagebuchnotizen aus der Zeit in Paris oder Prag und zwischen Er- und Ichform. Weiter wird der Erzählfluß oft plötzlich unterbrochen durch surreale oder metaphorisierende Einschübe, wie die Passagen „Das Schafott des Trinkers“, in denen Kobbe mit einem Alter ego über das Recht zu zweifeln streitet. Kurz: Auch der Roman präsentiert sich als Stückwerk.
 
Doch ließ sich mangelnder Zusammenhang selten besser begründen als hier. Was könnte Heimatlosigkeit und Unrast des Exilanten unmittelbarer umsetzen als bruchstückhaftes Erzählen? Und in der Tat sagt Sahl selbst über sein Werk: „Ich hielt die Form des Fragments für die einzig mögliche, um eine Zeit des Fragmentes darzustellen.“ Doch: Bloßes Anreißen birgt immer das Risiko, den Leser nicht zufriedenzustellen. Manchmal drängt sich auch die Vermutung auf, Sahl versuche forciert, reale Ereignisse seines Lebens unbedingt unterzubringen, ohne nach dem Sinn für das Ganze zu fragen. Vielleicht liegt es auch am – womöglich eben gewollten – Gefühl der Orientierungslosigkeit bei der Lektüre, daß „Die Wenigen und die Vielen“ nach wie vor nicht die verdiente Beachtung gefunden hat. Mit der Neuausgabe gibt es bei Hans Sahl viel zu entdecken – im Ganzen wie in den Teilen.

Hans Sahl 1902-1993
Foto © Luchterhand

 
Hans Sahl: Die Gedichte (hg. von Nils Kern und Klaus Siblewski),
© 2009 Luchterhand Literaturverlag, München. ISBN 978-3-630-87288-9; 333 S., 19,95€.

ders.: Die Wenigen und die Vielen. Roman einer Zeit,
© 2010 Luchterhand Literaturverlag, München. ISBN 978-3-630-87292-6; 366 S., 22, 95€.

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