Das Reimen der Anderen

Rayk Wieland - „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“

von Martin Hagemeyer
Das Reimen der Anderen
 
Rayk Wielands DDR-Satire
„Ich schlage vor, dass wir uns küssen“
 
 
Es wurde auch hohe Zeit. Ein enormer Beamtenapparat, abgeordnet für die penible Erfassung und Auswertung banalster Alltäglichkeiten – und all dies in der Überzeugung, damit welthistorisch Unverzichtbares zu tun: Die Stasi, sie war auch ein sprudelnder Quell der Komik – und hätte (nach dem ernsten Filmdrama des einsamen Mitwissers „Das Leben der Anderen“) längst Stoff für humorige Würdigungen en masse abgeben können. Jetzt ist eine da: Rayk Wieland hat den Roman „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ geschrieben und vorgeführt, was simplen (aber charmanten) lyrischen Gehversuchen passieren kann, wenn sie gewissenhaften Schreibtischrevolutionären in die Hände geraten. 
 
Der eng an den Autor angelehnte W. erfährt 20 Jahre nach der Wende erstaunt, daß er als „unterdrückter Untergrunddichter“ der DDR firmiert; beim Durchstöbern seiner Stasiakte findet er tatsächlich eigene Liebesgedichte an seine damalige Freundin in München, angereichert durch exegetische Bemühungen eines Oberleutnant Schnatz. Dieser legt etwa ein als „Plan und Gegenplan“ betiteltes Gedicht W.s aus als veritable „Verächtlichmachung des sozialistischen Planungswesens“, und Verse wie „Die Straßen führen nirgends hin / Als nur zu dir. So soll es sein.“ genügen ihm für den alarmierenden Vermerk: „Operativ bedeutsam: Straßen, die angeblich nirgendwohin führen, große Welt und Land, das zu klein ist. Anspielung und Zusammenhang auf mehrfach geäußerte Fluchtabsichten des W.“ Besonders der vom Observationsobjekt gern verwendete Konjunktiv ist Schnatz ein Dorn im Auge, denn das bloß Mögliche stehe allen Ernstes „in offenem Widerspruch zur wissenschaftl. Weltordnung“. Durch derlei Kleinkrämerei erscheint der real existierende Sozialismus als kontrollfixierte Lachnummer: „Gut möglich, dass dieser Staat, der einen grotesk überschätzten Liedermacher mit Hängeschnäuzer sogar ausbürgerte, am Ende durch die obsessive Konzentration seiner Spezialkräfte auf harmlose Hobby-Existentialisten wie mich völlig konfus wurde.“
 
Doch „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ ist nicht nur DDR-Satire, sondern auch Satire auf die (zumindest von W. so empfundene) Dämonisierung der DDR und die Glorifizierung der Wende. Etwas lächerlich dargestellt sind nämlich auch die rührigen Aufarbeiter vom Symposium „Dichter. Dramen. Diktatur“, die den nichtsahnenden W. partout zum einst verfolgten Dissidenten machen wollen, obwohl der von sich sagt: Ich war kein Opfer, und die DDR war für mich vor allem: langweilig. Und als Szene für die Ewigkeit wird geschildert, wie der Ich-Erzähler den Mauerfall erlebte: Während ganz Ostberlin am Abend des 9.11.1989 zum gerüchteweise offenen Grenzwall strömt, beharrt er als letzter Gast in einer schmierigen Bar auf „Cigarre, Getränk und Würde“ und bringt das ungeduldig wartende Personal zum Wahnsinn mit dem knochentrockenen Satz: „Da nehme ich doch noch einen Cuba Libre.“
 
Das ist witzig, aber auch sehr forciert. Es gibt im Roman so einige Passagen, die man (bei Satiren natürlich legitim) dick aufgetragen nennen kann: Die interpretatorischen Verrenkungen des Stasioffiziers werden mit der Zeit absurder und absurder, er stellt bei höherer Stelle „Dechiffrieranfragen“ für bedeutungslose Wörter im Gedicht und bescheinigt einem übersetzten Shakespeare-Sonett „defätistische Tendenzen“. Und auch bei der (hier nicht verratenen) Schlußpointe oder auch W.s Zeitreise mit der Rückführungstherapeutin Tyna Novelli drängt sich der Eindruck auf, daß die Geschichte mit überreizten Einfällen gezielt auf „DDR-Kultroman“ getrimmt werden soll. Doch dann fällt der Blick auf den Anhang mit den zitierten Gedichten nebst Schnatz‘ Anmerkungen, und man schluckt. Die sauber mit Sternchen markierten Kommentare wirken beängstigend authentisch. Und gleich wie nahe das Ganze an den realen Erlebnissen von Rayk Wieland konkret sein mag – der DDR-unkundige Rezensent ahnt dumpf: Vielleicht war’s drüben wirklich so.
 
In einem der raren lustigen Momente des Films „Das Leben der Anderen“ sieht man einen der observierenden Stasibeamten, wie er per Wanze das Liebesspiel des überwachten Ehepaares mithört und formvollendet in die Schreibmaschine tippt: „Vermutlich Geschlechtsverkehr.“ Amt trifft Amor  – Rayk Wieland zeigt: Die Komik dieser Kombination füllt spielend ganze Romane.
 
 
Rayk Wieland: „Ich schlage vor, dass wir uns küssen.“ Roman
© 2009 Verlag Antje Kunstmann GmbH, München
208 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag,
ISBN 978-3-88897-553-0, (D) 17,90 €.
 
Weitere Informationen unter: www.kunstmann.de