Eine Kindheit in Berlin (2)

Von Prenden nach Schmargendorf

von E.G.

E.G. - Foto © Musenblätter
Eine Kindheit in Berlin
(2)


Das einzige „Erlebnis“ aus jener Zeit, an das ich mich selbst sehr deutlich erinnern kann und das mir damals ein ungeheures Selbstbewußtsein vermittelte, war der Auftrag, meinem Vetter, der inzwischen zur Schule ging (gehen durfte, wie ich es empfand), den vergessenen Griffelkasten nachzubringen. Meine Güte, war ich stolz, die Schule betreten zu dürfen! Jetzt werden einige sicher fragen, „was ist denn ein Griffelkasten?“ Also damals, im Jahr 1919, lernte man das Schreiben zuerst auf einer Schiefertafel, die war rechteckig, ungefähr 30 x 25 cm groß, aus dunklem Schiefer mit einem ca.1 cm breiten Holzrahmen. Auf diese Tafel schrieb man mit einem Griffel, einem dünnen runden Schieferstab, der unten angespitzt und aus hellerem Schiefer war. Das ergab eine hellgraue Schrift auf der dunklen Tafel. Äußerst praktisch daran war, daß man das Geschriebene mit einem angefeuchteten kleinen Schwämmchen jederzeit wegwischen  und an gleicher Stelle neu schreiben konnte. Dies Schwämmchen und evtl. auch ein Läppchen zum Nachtrocknen waren mit einer Schnur an der Tafel befestigt. Bei jedem kleinen Schulkind baumelte aus dem Schulranzen so ein Schwämmchen oder Läppchen heraus. Übrigens gab es damals nur Schulranzen aus Leder, etwas anderes kannte man nicht.
 Wenn es in der Schule also ans Schreiben ging, war man ohne Griffelkasten (in dem immer mehrere Griffel waren, falls einer abbrach), natürlich hilflos - und darum kam ich mir bei meinem Auftrag äußerst wichtig vor. Übrigens habe ich natürlich später ebenfalls  auf der Schiefertafel das Schreiben gelernt – und meine Kinder Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre auch noch
 
Glück und Trauer in Prenden

Wenn meine Mutti am Wochenende nach Prenden kam, war es immer ein besonderes Ereignis für mich und gab mir ein ganz großes Glücksgefühl. Aber sonst habe ich weiter keine konkreten Erinnerungen an diese Zeit in Prenden, zumal sie mit ca. 1 ½ Jahren auch verhältnismäßig kurz war.
Tante und Onkel verkauften das Haus im Jahr 1920 und zogen nach Berlin zurück, wo sie ein Restaurant eröffneten. Auch an diese Zeit kann ich mich nur vage erinnern, jedoch war ein Ereignis für mich persönlich sehr aufregend: Eines Sonntags kam Onkel Walter, ein Bruder von Onkel Arthur, mit einem Hund zu Besuch. Dieser Hund lag unter dem Küchentisch, ich wollte ihn füttern und kroch zu ihm unter den Tisch. Das „liebe“ Tierchen biß mich prompt in den Oberschenkel! Das war natürlich ein Riesenschreck für mich und die ganze Familie. Die Narbe davon habe ich heute noch.
 
Leider lebten wir dort auch nicht sehr lange, denn es trat etwas Schreckliches ein, das das Leben für meine Tante und meinen Onkel aus den Angeln zu heben drohte! Mein Vetter und Spielgefährte Ernst erkrankte an der Kopfrose und starb schließlich am Heiligen Abend des Jahres 1920 daran. Erst als ich erwachsen war, konnte ich ermessen, welche Qualen mein Onkel durchgemacht haben muß, als er am gleichen Tag, an dem sein Sohn im Sterben lag, in seinem weihnachtlich geschmückten Restaurant für die Kinder der Stammgäste den Weihnachtsmann spielen mußte.
Wie die Erwachsenen später meinten, hätte mein Vetter sicher nicht sterben müssen, wenn es damals schon Penicillin gegeben hätte. Seine Krankheit begann nämlich damit, daß er einen Eiterpickel an der Oberlippe hatte, den die Ärztin öffnen wollte (wahrscheinlich nicht sachgemäß, wieder nach Meinung der Erwachsenen), wobei der Eiter ins Blut ging und die Kopfrose auslöste. Man fand kein Mittel, ihn zu retten, eine Tragödie! Welche Reaktionen Ernsts Tod bei mir auslöste, weiß ich nicht, vermute aber, daß ich es als eine Tatsache hinnahm, die ich zu akzeptieren hatte. Jedenfalls kann ich mich nicht an ein Gefühl der Trauer und des Verlustes, das ich doch eigentlich gehabt haben müßte, erinnern.

Neuanfang in Schmargendorf
 
Tante Roni und Onkel Arthur verkauften danach ihr Restaurant, denn hier mochten sie nicht mehr leben. Sie kauften sich wieder Haus und Grundstück außerhalb Berlins, diesmal in Berkenbrück, einem Dorf in der Nähe von Frankfurt an der Oder. So weit weg wollte meine Mutti mich nicht geben, zumal ich auch bald zur Schule kommen sollte. Wieder mußte eine Lösung gefunden werden. Sie  fand sich durch eine Freundin und Kollegin Muttis, Tante Idchen (beide arbeiteten als Kassiererinnen im Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz). Tante Idchen wohnte zusammen mit ihrer Mutter, Tante Timm, in Schmargendorf, nicht zu weit von Friedenau entfernt, wo unsere neue Wohnung war. Sie erklärte sich bereit, mich zu sich zu nehmen, und so kam ich zu diesen beiden. Jetzt konnte ich jedes Wochenende bei meiner Mutti verbringen, was natürlich ein ganz wichtiger Gesichtspunkt war. Ich selbst, eigentlich die Hauptperson bei all diesen Veränderungen, nahm das alles sehr gelassen und als selbstverständlich hin.
                  
Waschbrett und Gaslicht

Tante Idchen und Tante Timm hatten im Gartenhaus eines Mietshauses eine mietfreie Souterrain-Dienstwohnung, weil Tante Timm den Posten der Portierfrau für das Haus übernommen hatte. Eine Portierfrau mußte damals für die Ordnung und Sauberkeit im Haus Sorge tragen und die Treppen

Berliner Hinterhof - Foto © Hans-Georg Weimar /
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reinigen (ähnlich dem heutigen Hausmeister, nur war sie für technische Belange nicht zuständig, dafür wurde ein Handwerker genommen). Das mietfreie Wohnen war für die beiden sehr wichtig. Tante Timm war sehr jung Witwe geworden, bekam keine Rente, denn ihr Mann war „nur“ Handwerker gewesen! Und sie hatte ihre beiden Kinder, Sohn Karl und Tochter Ida – wie man so schön sagt - nur durch ihrer Hände Arbeit ernährt und großgezogen - und zwar als Waschfrau. Eine Waschfrau ging in wohlhabende Familien, wo sie der Hausfrau die schwere Arbeit des Wäschewaschens abnahm. Das war damals wirklich und wahrhaftig Schwerstarbeit! An Waschmaschinen war nicht im Traum zu denken, man hatte ja noch nicht mal Elektrizität. Die Wohnungen hatten meist Gasbeleuchtung oder sogar noch Petroleumlampen. Auf einem Kohleherd wurde die Wäsche in einem großen Zuber in Seifenlauge gekocht (meist hatte man in den Wohnhäusern eine gesonderte Waschküche, welche die Mieter abwechselnd benutzten - bei einigen Familien ging das ganze aber auch in der Küche vor sich). Nach dem Kochen wurde die Wäsche mit großen Holzlöffeln oder -stöcken aus dem Zuber nach und nach in eine Wanne gehoben und darin mit den Händen gewaschen. Für sehr große oder sehr verschmutzte Stücke hatte man ein Waschbrett (ca. 60 x 40 cm groß, eine in kleinen Wellen geriffelte Metallfläche auf einem Holzbrett, das unten zwei kleine Füße hatte und schräg in die Wanne gestellt wurde). Darauf rieb man die Wäsche hin und her, statt sie in den Händen zu reiben. Waschfrau war also ein sehr anstrengender Beruf, könnt Ihr Euch vorstellen! Und er war schlecht bezahlt, je nach dem Wohlwollen der Hausfrau! – Die Portierstelle mit der mietfreien Wohnung war also ein  Fortschritt für Tante Timm, sie mußte jetzt nicht mehr als Waschfrau arbeiten.
 
Portierswohnung im Souterrain

Mir gefiel es bei den beiden gut, ich fühlte mich sehr wohl bei ihnen. Die Tatsche, daß  Tante Timm Portierfrau war, gab ihr in meinen Augen und nach meinem Gefühl auch mir (!) eine gewisse Wichtigkeit. So erinnere ich mich, daß ich einmal ein etwa gleichaltriges Mädchen, das im Garten einen Zweig abgebrochen hatte, wütend zur Rede stellte und zur Ordnung rief, denn so etwas durfte man nicht!
 
Tante Timm war damals ca. 60 Jahre alt, und ich erinnere mich, wie sehr mich die Falten in ihrem Gesicht faszinierten. Sie war der erste ältere Mensch, mit dem ich nach Großmuttchens Tod in Berührung kam, kannte bis dahin also nur glatte, junge Gesichter. - Ganz besonders freute ich mich, wenn  Tante Idchens Bruder, Onkel Karl, zu Besuch kam. Ich glaube, ihm galt meine erste Liebe. Darum mochte ich wohl auch seine junge Frau, mit der er in Zehlendorf im Berliner Südwesten wohnte, nicht besonders. Erste Eifersucht!


Lesen Sie nächsten Sonntag hier mehr über diese Kindheit vor fast 100 Jahren
Redaktion: Frank Becker - © 2011 Musenblätter