Eine Kindheit in Berlin (6)

Wurzeln in Thorn und Schwimmen in der Spree

von E.G.

E.G. 1921 - Foto © Musenblätter
Eine Kindheit in Berlin
(6)



Gern hörte ich kleine Anekdoten von Muttis Schulzeit. Sie hatten über viele Jahre den gleichen Lehrer, der sie, soviel ich mich erinnere, in allen Fächern unterrichtete, auch in Musik. Dieser Lehrer hatte ein Lieblingslied, das war „Wen ich den Wandrer frage, wo willst Du hin? Nach Hause, nach Hause, spricht er mit frohem Sinn.“ Das mußten sie jahrelang immer wieder singen. Mutti hatte eine schöne Singstimme und mußte es mir natürlich auch vorsingen. Dann erzählte sie mir, wie er ihnen beigebracht hatte, was Magnetismus ist. Er hatte es immer so eigentümlich betont und gesagt: „Maaagnetismus ist die Kraft, welche Eisen anzieht!“ Darüber konnte sie sich noch nach Jahrzehnten kaputtlachen, als sie es mir erzählte. Zu ihrer Schulzeit herrschte ja noch eine andere Erziehungsmethode in der Schule und zwar regierte der Rohrstock. So erzählte sie auch, daß der Rektor mit dem Rohrstock an der Schultreppe stand, wenn die Kinder von der Pause hochkamen (sie hätten dann mucksmäuschenstill sein sollen, aber wann sind Kinder das schon) und wenn geschwatzt wurde, ließ er einfach den Rohrstock von oben runterausen, ganz gleich, wen es traf. Mutti meinte, sie hatte sich immer rechtzeitig geduckt, so daß sie nichts abbekam. – Dann erzählte sie auch gern von ihrer Schulfreundin, Viktoria, deren Vater Schneider war, ein Schneider, wie man es in alten Filmen sieht, der mit gekreuzten Beinen auf dem Tisch sitzt und näht. Na, das war interessant für sie. – Weiter erfuhr ich noch von langen Sonntagsspaziergängen zu einem Onkel und von einem anderen Onkel, der einen großen Weichselkahn hatte. Er fuhr mit seinem Schiff auf der Weichsel bis nach Russland und hatte nach Muttis Erinnerung Säcke mit Lebensmitteln, u.a. Zucker, geladen. Wenn er durch Thorn kam, besuchte ihn die Familie auf dem Schiff, was jedes Mal für Mutti ein Angsttraum war. Sie fürchtete immer, vom Schiff zu fallen. Es hatte ja keine Reling und um den schräg abgedeckten Laderaum herum führte ein Steg. Sie erzählte mir, daß sie sich schreiend auf die schräge Abdeckung geschmissen hat und nicht weitergehen wollte. Aber sonst war der Onkel, Vaters Bruder, für die Kinder eine interessante Persönlichkeit. Eigenartigerweise sprach meine Mutti immer nur von Onkel und Tante, ich hörte nie irgendwelche Vornamen. – Die Weichsel muß ein sehr imponierender Fluß sein, von seiner Größe schwärmte Mutti gern. Nur ein Erlebnis auf der Weichsel gehörte nicht zu ihren schönsten Erinnerungen: Im Winter gingen die größeren Geschwister auf dem zugefrorenen Fluß Schlittschuh laufen und Mutti, die Jüngste, wollte das eines Tages auch. Also bekam sie Schlittschuhe und ging mit: Natürlich war sie noch unerfahren und kam auf der (in Wellen) zugefrorenen Weichsel nicht zurecht. Sie stürzte, schlug mit dem Kopf aufs Eis und wurde ohnmächtig und so ohnmächtig brachten sie die Geschwister zur Freude der Mutter nach Hause…
 
Wurzeln in Thorn

Interessant finde ich einen politischen Aspekt jener Zeit. Thorn war damals deutsch, hatte vorher aber zu Polen gehört. Die Bevölkerung war z.T. polnisch, wurde jedoch von den deutschen Behörden gezwungen, deutsch zu sprechen, was sie gar nicht konnten. So erging es auch den Eltern von Viktoria, die Polen waren. Schon als Kind hat Mutti das als Schikane der Deutschen empfunden. - --  Soviel aus Muttis Kindheit.
 
Zurück zu meiner Kindheit. An den Wochenenden oder an den Sonntagen standen immer irgendwelche Verwandtenbesuche auf dem Programm, wobei wir auch Tante Idchen und ihre Angehörigen mit zur Familie rechneten, seitdem ich bei ihr gewohnt hatte. Ihr Bruder lebte  mit seiner Frau in Lichterfelde, ebenfalls ein westlicher Vorort Berlins. Obwohl uns einige Kilometer trennten, machten Mutti und ich uns des öfteren dorthin zu Fuß auf den Weg, ein ganz schöner Sonntagsspaziergang, natürlich nur im Sommer. --
Tante Idchen heiratete eine Tages und zog mit ihrem Mann (Onkel Fred) und ihrer Mutter von Schmargendorf nach Charlottenburg, wo sie im Gartenhaus im 4. Stock wohnten und einen Balkon hatten. Das war etwas ganz neues für sie und natürlich auch für mich. Ich liebte es, von dort in den Hof zu sehen, während meine Mutti das überhaupt nicht konnte, da sie dabei Höhenangst bekam, wovon ich zuvor noch nie etwas gehört hatte. Tante Idchens Mann war Schneider und brachte den beiden Freundinnen, nämlich Mutti und Idchen, die schon sehr tüchtig im Nähen waren, noch verschiedene kleine Nähtricks bei, von denen ich später auch ein wenig profitierte.
 
Verwandte

Unsere Besuche bei Muttis Schwester Tante Roni und ihrem Mann Onkel Arthur in Berkenbrück wurden auf Feiertage verlegt, da man mit der Bahn bis hinter Frankfurt an der Oder fahren mußte. Im gleichen Ort hatten auch Onkel Franz (Muttis Bruder) und seine Frau (Tante Lieschen) ein Haus, die wir dann natürlich auch besuchten. Später, als Tante Roni und Onkel Arthur bereits wieder in Berlin wohnten, fuhr ich in den Schulferien des öfteren allein zu Besuch zu Onkel Franz und Tante Lieschen. Ihr Grundstück war direkt am Wald, und ich war eigentlich gern dort. Aber eines war mir dort grauslich, wenn nämlich eins von ihren Hühnern geschlachtet wurde und ich erlebte, wie es ohne Kopf (!) noch weiterlief, ein schrecklicher Anblick!
Zu  diesen Ferienbesuchen wurde ich in Berlin von Mutti in den Zug gesetzt und fuhr  bis Berkenbrück. Dort mußte ich dann mit meinem Rucksäckchen über die Dorfstraße bis zu meinen Verwandten laufen. Niemand wäre auf die Idee gekommen, mich an der Bahn abzuholen. In meiner Erinnerung gehe ich diesen Weg nur in glühender  Hitze!
Bevor Tante Roni  und Onkel Arthur nach Berlin zurückzogen, wurde: ihre Tochter Ruth  geboren, unser  Ruthchen,  die wir alle  abgöttisch liebten.
 
Von meinen Besuchen bei Tante Lieschen und Onkel Franz gibt es noch ein paar Erinnerungen, von denen ich erzählen möchte. Es war faszinierend, daß sie Petroleumlampen hatten, es gab dort kein Gas und auch noch keinen elektrischen Strom. Eine Petroleumlampe anzuzünden, war auch ein wenig eine Frage der Geschicklichkeit, denn diese Dinger hatten die Neigung zu „blaken“, d.h. schwarzen Qualm zu entwickeln, wenn der Docht, der aus dem Petroleum ragte, zu lang war. Man konnte ihn mittels einer Schraube rauf- und runterdrehen. Etwas mich damals ungeheuer beeindruckendes war Tante Lieschens „Lektüre“, ein monatlich (oder vielleicht wöchentlich?) erscheinendes Fortsetzungs-Romanblättchen, das einen Roman mit dem Titel „Unschuldig im Irrenhause“ brachte. Gelesen habe ich wohl nicht darin, aber der Titel hat mich  sehr stark beeindruckt, und meine Vorstellungskraft gaukelte mir schreckliche Bilder vor, so daß ich es bis heute nicht vergessen habe. -- In meiner Kindheit trug man noch selbstgestrickte Strümpfe, selbstverständlich auch ich. Als ich nun  wieder mal bei Tante Lieschen und Onkel Franz war,  hatte ich schwarze Strickstrümpfe mit (für den Fall von kalten Tagen). Damals wußte noch niemand von uns, daß ich allergisch gegen Wollfasern war oder bin. Jedenfalls entzündeten sich meine Beine, aber Tante Lieschen verlangte, daß ich diese Strümpfe anzog. Meine Beine wurden so schlimm, daß diese dumme Frau sich endlich entschloß, meine Mutti schriftlich zu benachrichtigen, daß sie mich abholen müsse, um mit mir zum Arzt zu gehen. Mutti ist dann fast in Ohnmacht gefallen, als sie sah, wie schlimm das war, fuhr schnurstracks mit mir nach Berlin und ging zum ersten Hautarzt, den sie finden konnte. Zum Glück fand der sofort die richtige Salbe für meine wunden Beine und ich war  erlöst! Ich glaube, das war mein letzter Besuch in Berkenbrück. - Übrigens hatte mir meine Kusine Clärchen dort in der nahen Spree das Schwimmen beigebrach. Tante Lieschen und  Onkel Franz hatten zwei Kinder, meinen Cousin Kurt und Cousine Clärchen, die aber selten in Berkenbrück waren. Sie waren beutend älter als ich, so daß ich zu ihnen keinen engeren Kontakt hatte als bei gelegentlichem Treffen innerhalb der Familie. Etwas muß ich noch erzählen, was zu meinen Berkenbrücker Erlebnissen gehörte: Auf dem Weg von der einen Familie zur anderen ging es an Wiesen und Feldern vorbei, es war wirklich „auf dem Lande“. Und zu diesem Landidyll gehörten u.a. auch Gänse, an denen ich vorbeimarschieren mußte. Die lehrten mich das Fürchten! Denn der Ganter, Herrscher über seine Gänseschar, sah sich eines Tages durch mein Vorbeigehen in seinen Hoheitsrechten bedroht und ging zum Angriff gegen mich vor, das heißt er kam laut schnatternd auf mich zu und kniff mich mit seinem Schnabel kräftig ins Bein. Na, vor denen hatte ich in Zukunft Respekt und machte immer einen großen Bogen drumherum!
Irgendwann  verkauften Tante  Lieschen und Onkel Franz Haus und Grundstück und kehrten nach Berlin zurück, womit meine Landerlebnisse beendet wurden.



Lesen Sie nächsten Sonntag hier mehr über diese Berliner Kindheit.
Redaktion: Frank Becker - © 2011 Musenblätter