Als uns die Schwebebahn gestohlen wurde

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Als uns die Schwebebahn
gestohlen wurde
 
 
Eines Tages geschah Schreckliches: Als ich abends spät vom Neumarkt zum Bahnhof ging, klaffte vor mir, an der Stelle, wo die Schwebebahn, der Wupper folgend, die Alte Freiheit überquert, klaffte eine furchtbare Lücke. Die Schwebebahn war weg. Mit weit aufgerissenen Augen lief ich zum Islandufer, lief weiter, ich glaube, ich lief bis zum Westende aber nichts war zu sehen keine Schwebebahn, kein Gerüst.
 
Ich gestehe, erst in diesem Augenblick verstand ich, was uns die Schwebebahn bedeutet. Sie ist unsere Heimat, sie ist bergische Version des Heiligen Grals. Ich schluchzte hemmungslos auf, während ich mich in der Nacht am Wuppergeländer festhielt. Schließlich ging ich nach Hause, immer noch verzweifelt.
Zu Hause schlief schon alles. Nur die Tochter hatte mich kommen sehen. Da bist du ja wieder, sagte sie. Du sollst doch Bescheid sagen, wenn du fortgehst.
 
Warum das von mir verlangt wird, habe ich nie verstanden. In meinem Zimmer rief ich sofort Lenchen an. Sie war vor achtundvierzig Jahren meine Freundin, aber sie hat gesundheitliche Probleme. Auch mit dem Arzt, weil der behauptet, es läge am Alkohol, während sie doch fast nichts trinkt.
Also, von ihr habe ich es erfahren. Die Düsseldorfer müssen es gewesen sein. Sie haben sie geklaut. Bei Nacht und Nebel. Geld haben sie genug für so eine Transaktion, und gönnen tun sie uns auch nichts, diese Pfeffersäcke. Ich denke, ihr kulturelles Minderwertigkeitsgefühl steckt dahinter. Aber, technisch gesehen, war es schon eine Meisterleistung. Es sollen nur ganz wenige eingeweiht gewesen sein.
 
Und jetzt ein Ereignis, das alles andere übertrifft: Am Morgen war die Schwebebahn wieder da. Ich behaupte, sie ist mit ihren eisernen Beinen zurückgestakt, die Düssel entlang, über Dornap, und plötzlich stand sie wieder am alten Platz zwischen Vohwinkel und Oberbarmen.
 
Am Morgen ging ich in die Stadt, um zu hören, was die Leute dazu sagten. Sie werden es nicht glauben, aber kein Mensch sprach von diesem erschütternden Ereignis. Wirklich kein einziger!
Ich war fassungslos. Wenn ich jemand fragend anblickte, schaute er zur Seite. Ich habe nur die Erklärung, daß es pure Verlegenheit war. Die Leute wissen nicht, wie sie mit solchen Ereignissen umgehen müssen.
Ich dagegen bin nicht so ratlos, wenn Unerwartetes geschieht. Damit ein Ereignis zustande kommt, müssen viel mehr unsichbare Kräfte als sichtbare zusammenwirken Schwingungen, die sich ein einzigers Mal innerhalb der Ewigkeit zu sichtbarer Materie verdichten. Darum passiert auch nichts zum zweiten Mal. So etwas begreifen nur die wenigsten.
 
Sie gehörte nicht nach Düsseldorf, sie war ja hier paßgenau in das enge Tal geflochten, und vielleicht hat sie ja auch eine Seele, eine Eisen-Seele, die es nach ihrer Heimat verlangte, der in Grün eingebetteten Stadt. Lenchen sagte am Telefon, man habe sie einfach zurücktransportiert, einfach aus schlechtem Gewissen heraus. Sonst wäre ja kein Wuppertaler mehr in die Altstadt gekommen.
Wundern tut mich immer noch, daß das auch jetzt niemand von der Sache mit der Schwebebahn spricht. Wenn ich in der Familie nur eine Andeutung davon versuche, machen alle so ein komisches Gesicht und blicken einander an, oder sie sagen gleich, ich solle das mit dem Arzt besprechen.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011
Redaktion: Frank Becker