Der Beginn neuen Hörens

George Gruntz - "St. Peter Power"

von Frank Becker
Jazz-Delikatessen auf der Kirchenorgel

George Gruntz hat es 1968 mit einer längst legendär gewordenen LP-Aufnahme bewiesen - und keiner konnte es ihm seither in gleicher Qualität nachtun: Man kann auf einer Kirchenorgel ganz hervorragenden "profanen" Jazz spielen. Der damals 36 Jahre alte Schweizer Pianist, der bereits 1958 beim Newport Jazz Festival in einer Band
mit u.a. Dusko Goykovic auf sich aufmerksam gemacht und danach einige glänzende Arbeiten in den USA abgeliefert hatte, wurde zu einem der innovativsten Pianisten des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, ein kreativer "Grenzüberschreiter", der Sinfonien und Filmmusik, Ballettmusik und Opern, Jazz und Oratorien komponierte. Mit seiner George Gruntz Concert Jazz Band konnte er internationale Anerkennung finden.

Mit der erlesenen Trio-Besetzung Eberhard Weber (Kontrabaß, *1940) und Daniel Humair (Schlagzeug, *1938) begab sich Gruntz im Juli 1968 in die mit barocker Pracht ausgestaltete historische katholische Pfarrkirche von St. Peter im Schwarzwald, wo er auf der 1967 von Johannes Klais ins vorhandene Barock-Gehäuse gebauten dreimanualigen Orgel zehn Titel einspielte, mit denen er zwei Genres revolutionierte: den Jazz und die Kirchenmusik. Die weltweit erste Kirchenorgel-Jazz-Platte der Welt entstand. Als ich zu ersten Mal die schwarzglänzende 180g-Vinylscheibe auf den Plattenteller legte, vermittelte mir das sensibel mit der akustischen Delikatesse der Kirche und der großen Orgel umgehende spielerische Genie dieser drei einzigartigen Musiker eine neue Hör-Dimension. Vom ersten gewaltigen Akkord von Benny Golsons Clifford Brown gewidmetem "I´ll Remember Clifford" an, das wie ein Choral über den Hörer kommt, ist man von der Akustik der Kirche und der tiefen Ernsthaftigkeit der zehn Interpretationen gefangen. Die Orgel bietet alle Möglichkeiten, sie kann wie in "You Don´t Know What Love Is" gewaltig einsetzten und weich ausklingen, an die Grenze der freien Interpretation stoßen wie in Ornette Colemans "Lonely Woman" oder swingen wie in Richard Rogers´ "My Funny Valentine".

Besonderes Fingespitzengefühl muß vor allem Daniel Humair am Schlagzeug beweisen, denn die Akustik der barocken Kuppel nimmt jeden zu scharfen Akzent übel. Humiar glänzt mit seiner Zurückhaltung ebenso wie Eberhard Weber, dessen Baß-Soli wie u.a. in Carla Bleys "Jesus Maria" Delikatessen sind. Nicht ohne Grund ist die 1968 in geringer Zahl gepreßte LP, die leider bisher nicht als CD oder auf Vinyl reproduziert wurde, mittlerweile ein gesuchtes Sammlerstück.

George Gruntz wird heute 79 Jahre alt.

Beispielbild
Cover: Hans B. Pfitzer
 
George Gruntz
St. Peter Power
 
George Gruntz  -  Orgel
Eberhard Weber - Kontrabaß
Daniel Humair  -  Schlagzeug
 
© 1968 Saba MPS Records - (Vinyl, LP)
Produziert von Joachim Ernst Berendt
 
Aufgenommen am 15. und 16. Juli 1968 in der Kloster- und Pfarrkirche St. Peter/Schwarzwald
Liner Notes - Heinz Wehrle

Titel:
A 1: I'll Remember Clifford 2:48
A 2: Summertime 4:03
A 3: God Bless The Child 2:28
A 4: Lonely Woman 2:45
A 5: My Funny Valentine 3:20

B 1: You Don't Know What Love Is 2:34
B 2: Nobody Knows The Trouble I've Seen 2:34
B 3: Django 4:47
B 4: Yesterdays 2:33
B 5: Jesus Maria 3:09
 
Gesamtzeit :  ca. 33 Minuten