Großes Mahler-Wochenende in der Essener Philharmonie

Jonathan Nott vs. Tilson Thomas

von Peter Bilsing

Großes Mahler-Wochenende
in der Essener Philharmonie
 
Unterschiedlicher können Mahler-Interpretationen nicht sein!
 
Jonathan Nott und die Bamberger Symphoniker mit der 7.
vs. Tilson Thomas & San Francisco Symphony mit der 6.
 
 
Samstag 28. Mai - 20 h / Sonntag 29. Mai - 17 h
 
 
Entree und Vorspiel der Bamberger
 
Gute 20 Minuten vor Konzertbeginn des Samstagkonzerts mit den Bambergern treffe ich einige Musiker vor der Philharmonie; der Druck und die Anspannung wird durch einige Zigaretten gelöst; man sieht konzentrierte Musiker, die wohl vor dem Konzert eine intensive Probe hatten. Später um exakt 20 h öffnen sich die beiden Seitentüren zum Konzertpodest und man betritt gemeinsam die edle Halle. Der kollektive Charakter des Orchesters wird auch äußerlich demonstriert: Wir sind ein Gemeinschaft! Die Instrumente liegen bereit, als wären sie noch warm von der letzten Probe, man nimmt schweigend und konzentriert seine Plätze ein - es kommt der Konzertmeister, danach der Dirigent. So ist es international üblich. Kurze aber höfliche Verbeugung zum Publikum; los geht es ohne Mätzchen.
 
Entree und Vorspiel der Amerikaner
 
Ein völlig anderes Bild am nächsten Tag: Zwanzig Minuten vor Konzertbeginn legt der Bus der Amerikaner an. Fröhlich und mit bunten Plastiktüten, als käme man just vom Shopping, strömt die Musikerschar durch den Künstlereingang, welcher direkt neben dem Haupteingang für Zuschauer liegt. Kurze Möglichkeit noch für ein schnelles Hallihallo zu den Mitgereisten und Bekannten. Sie sind schnell, die Amerikaner, denn bereits gute fünf Minuten später füllen sich Teile des Orchesterpodestes. Von hinten kommen die Zuhörer ins Auditorium, vorn vorne die Musiker auf ihre Spielfläche. Ein buntes Bild! Ein reges Treiben. Keine Zeit für einen Begrüßungsbeifall. Wo und wann auch? Einiges stimmt noch nicht mit den Stühlen und Instrumenten - der Orchesterwart wird tätig links bei den Bässen (Europäische Sitzordnung). Eine schöne Gelegenheit für die weiblichen Musiker vielleicht noch die letzten Kochrezepte auszutauschen und für die Herren über die sicherlich besichtigte Villa Hügel zu plaudern; es ist ja noch gute zehn Minuten Zeit bis zum Anpfiff sprich Konzertbeginn. Pünktlich um 17 h sind dann alle Musiker an ihrem Platz. Der Konzertmeister kommt - Kammerton a - dann der Dirigent. Wir starten mit fünfminütiger Verspätung ... anscheinend waren die Kartendrucker dem Publikums-Ansturm der letzten Minuten nicht gewachsen; da muß man Rücksicht nehmen.
 
 
Over in the Glory-Land... Meeting with Mahler at Disneyworld
 
Tilson Thomas & San Francisco Symphony
 

Tilson Thomas dirigiert die San Francisco Symphony - Foto © Sven Lorenz
Man hätte auch titeln können: Ein großes Mahler-Feuerwerk. Doch zurück zum Entree: Natürlich sind die Damen und Herren der San Francisco Symphony gestandene Profi-Musiker, und so können Sie sich binnen Sekunden, quasi auf Kommando, in die Partitur einfinden, und trotz der kargen Schlagweise des Grandseigneurs Tilson Thomas kommen sie weltmeisterlich zusammen und spielen absolut perfekt jede Note. Ansatzlos tauchen sie in die Partitur ein. Spendabler Edelklang, furioses Fortissimo kämpft gegen zurückhaltendes Legato. Man taucht wirklich tief in die Partitur ein, doch Mahler findet man bis zum Schluß trotz aller Perfektion leider nicht! Kein Gänsehautgefühl, kein bedrohliches Kribbeln stellt sich beim Zuhörer ein; nicht die geringste Irritation. Nichts Verstörendes im Unisono-Schönklang fast filmmusikalischer Gestaltungsglätte. Wir hören eine große Alpensinfonie; goldene Bläserkaskaden, ein wunderbares Meer von Streichern - teilweise unendlicher Schönklang. Aber ist das Gustav Mahler? Ich denke an Disney-World - eine grandios inszenierte perfekt funktionierende Scheinwelt. "Allegro energico, ma non troppo" - Alles klingt wunderbar positiv schön. Zu schön!
 
Der Rezensent ist verwirrt. Sollte denn nicht der Tonfall dieser Sinfonie die tragischen Ereignisse im Leben, besser im Tod, der Familie Mahler des Jahres 1907 darstellen und darüber hinaus das Jahrhundert der Weltkriege und Völkervernichtungsaktionen anklagen? Von Tragik keine Spur! "Wie wütend dreinfahren" ... "Alles mit roher Kraft" steht in der Partitur. In der Tat hören wir ein Forte Fortissimo selten gehörten Ausmaßes und von erschlagender Explosivität, welche durchaus die bauliche Substanz der Philharmonie schädigen könnte; kräftig geht die sprichwörtliche Post ab, als wenn gleich das Dach des Musentempels wegfliegen müßte. Aber ist Lautstärke gleich Emotion? Sind Hammerschläge an sich schon Gewalt? Wo ist das Morbide? Wo sind die klanglichen Irritationen? Wo ist die Erregung in der Musik? Dissonanzen? Trotz wirklich perfekten Musizierens bleiben die Musiker unter Tilson Thomas das alles schuldig. Nichtsdestotrotz wird der Maestro vom gut betuchten Essener Edelpublikum (immerhin dreistellige Eintrittspreise!) mit stehenden Ovationen gefeiert, als wäre der leibhaftige Messias zum zweiten Male auferstanden. Diese Form der Mahler-Interpretation scheint konsensfähig und rezipierbar.
 
Ja aber wie hätten Sie es denn gerne, Herr Kritiker?
 
Normalerweise antworte ich darauf immer "Hören Sie mal Bernstein!" Aber in diesem Fall kann ich einen ausgewiesenen Mahlerfachmann auch theoretisch zitieren: "Der Dissonanzen-Reichtum hat seinen Grund im Aufeinanderprallen der Themen und ihrer Motive. Mahler kombiniert alles mit allem, und so knirscht das emsige Getriebe der Welt in den zahlreichen Dissonanzen. Gerade der Mangel an Glätte, die unbekümmerte, die realistische Kombination des Unvereinbaren macht den Ton dieser Symphonie unverwechselbar und zeigt die Modernität gegenüber Richard Strauss.", schreibt Eberhard Klemm.
 
Fazit: Ganz im Gegensatz zu den Bambergern später hörten wir ein tolle Alpensinfonie von Richard Strauss. Mahlers 6. Sinfonie sollte nach meiner Mahler-Ästhetik aber doch etwas mehr klassischen Eklektizismus enthalten. Guter Mahler muß subkutan, also unter der Haut, spürbar werden und darf nicht in den plakativen Effekten eines großen Feuerwerks (sei es auch noch so schön) rückstandslos verglühen. Gerade die Doppelbödigkeit, welche in Mahlers Werken steckt, wurde hier vollständig ignoriert. An den technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Musiker lag es bestimmt nicht.
 
 
The Dark Side of the Moon - Bedrohung wird fühlbar...
 
Jonathan Nott & Die Bamberger Symphoniker
 

Jonathan Nott dirigiert die Bamberger Symphoniker - Foto © Sven Lorenz

Ganz anders die Bamberger Symphoniker, die ich nach ihrer wahnsinnigen Interpretation und mit diesem fabelhaften Dirigenten als das zur Zeit wahrscheinlich weltbeste Mahler-Orchester bezeichnen würde. Besser geht es nicht! Und so schafft Jonathan Nott genau jene Quadratur des Kreises, die man für eine tief ergreifende Mahler-Interpretation braucht. Seine Musiker schaffen es, oberflächlicher Simplizität Tiefe einzuhauchen. Es gelingt jene Tiefe, jene irritierenden Stimmungsbilder zu evozieren, die beim Zuhörer unmittelbar eine Gänsehaut auslösen. Sie bauen eine Spannung auf, welche den Zuschauer förmlich hineinzieht in die Musik und ihn dann bis zum Finale nicht mehr losläßt. Das ist der Mahler, den wir lieben, der unser Herz bis zum Hals schlagen läßt - dessen Morbidität in den Spannungsschwankungen uns begeisternd verunsichert. Dessen irritierende Rätselhaftigkeit uns ständig weiter neugierig macht, auf jeden Ton, jede Pause, jedes Klangfeld. "Man wird unsicher, ob man ihm (Mahler!) glauben kann" sagt Jonathan Nott. Und genau da fängt die große, die sehr große Aufgabe eines empfindsamen Mahler-Dirigenten an, nämlich eben jenes Subkutane freizulegen, welches beim ersten Lesen der Partitur (ähnlich wie bei Schostakowitsch) unter der falsch strahlenden, teilweise recht plakativen Oberfläche noch verborgen bleibt. Hier gilt es aber, Mahlers persönliche Gefühle, seine Lebenserfahrung, seine Ängste und Wünsche hörbar zu machen. Das schafften bisher nur wenige Dirigenten. Steven Sloane z. B. hat mit seinem Mahler-Zyklus und den Bochumer Musikern in der Essener Philharmonie dahingehend Maßstäbe gesetzt und Geschichte geschrieben. Daher wundert es mich besonders, daß die Disneyland-Wonderworld-Interpretation von Tilson Thomas so gefeiert wurde. Aber die Geschmäcker sind halt verschieden.
 
Die siebte Mahler ist eigentlich ein recht sperriges und selten aufgeführtes Werk. So lag es nicht nur an den nur zweistelligen Eintrittspreisen, daß sich das Auditorium in Essen doch sehr vom Publikum der am zweiten Tag aufgeführten, weit populäreren Sinfonie Nr.6 unterschied. Hier trafen sich die Mahler-Kenner, und da war die 2/3-Auslastung schon eine Menge. Nun klingt "Nachtmusik" ja auch wenig erheiternd oder entspannend. Vieles wirkt schroff und unaufgeräumt, obwohl die lyrischen Themen zum Schönsten gehören, was Mahler je komponiert hat - aber das Schöne kommt nicht so offenkundig, wie z. B. in der Zweiten. Der Zuhörer muß es sich quasi erarbeiten, muß es sich erhören! Das ist nicht ganz so einfach. Und wer offenen Herzens hinein hört, entdeckt durchaus Mendelssohnsche Klänge oder hört Berlioz-Zitate. Vieles ist bruchstückhaft angelegt, und was romantisch anklingt, verdreht sich schnell ins Gegenteil. Selten war Mahler moderner. Und die Bamberger spielen ihn mit einer Authentizität, die einmalig ist. "Zur Orientierung will ich noch bemerken, daß das Werk vorwiegend heiteren, humoristischen Inhalts ist", berichtete Gustav Mahler. So ist vieles Ironie, was auf den ersten Blick allzu düster herüberkommt. "Zwiespalt des Gefühls". Der Komponist fordert seine Zuhörer.
 
Ich kann allen Mahler-Fans nur raten, sich diesem Erlebnis mit den überragenden Bambergern und ihrem fabelhaften Dirigenten Jonathan Nott auszusetzen. Schon nach dem ersten Takt ist jeder gefesselt, fasziniert und taucht in Mahlersche Urgefilde ein, wie ein Psychiater in die Tiefen des Gehirns seines Patienten. Musik, die Frösteln macht. Irgendwo sprach ein Kollege von einer "Klangästhetik à la Rembrandt" - da ist schon etwas dran. Und wenn wir von einem Gemeinschaftserlebnis beim Musizieren sprechen, was eigentlich für jedes Orchester das Ziel allen Arbeitens sein sollte, dann zeigt sich das in diesem so ambitioniert wie einfühlsam aufspielenden Orchester-Kollektiv geradezu paradigmatisch, und es ist ein schönes Bild, wenn sich die Musiker hinterher nicht nur beim Publikum bedanken, sondern sich noch herzlich gegenseitig für diesen tollen geglückten Konzertabend gratulieren; für eine Mahler-Interpretation die weltweit Ihresgleichen suchen kann: "Bravo assoluto - Bravi -Bravissimi!"

Redaktion: Frank Becker