Jugendgewalt

Michael Wildenhain - "Blutsbrüder"

von Jürgen Kasten
Blutsbrüder ?

„Jetzt sind wir Blutsbrüder“, sagt Hakan zu seinem Freund Darius, nachdem sie wieder einmal einen blutigen „Kampf“ gemeinsam durchgestanden haben. Obwohl sich beide seit der Grundschulzeit kennen und jetzt ein Jahr vor dem Abitur stehen, besucht Darius den Freund das erste mal zu Hause und sieht dort dessen Karl May Sammlung. Nun versteht er den Spruch, nicht aber, daß ihre Freundschaft auseinander zu brechen droht.
Der Autor Michael Wildenhain lebt und arbeitet in Berlin. Unter anderem studierte er Philosophie und engagierte sich in der Hausbesetzerszene, kennt sich somit in dem Metier, über das er in diesem Jugendroman schreibt, aus.
Es geht um einen Freundeskreis von Gymnasiasten, die sich einer Antifagruppe anschlossen und Aktionen gegen Neonazis planen und durchführen. Entsprechend spannend und actiongeladen beginnt der Roman, denn die Gruppe um Darius wird von einer Horde schwarz vermummter Schläger gestellt und verfolgt, und es fallen Schüsse. Die Freunde entkommen.
 
Auf dem Nachhauseweg treffen sie in ihrem Viertel auf einige Türken, die eine deutsche Frau mit üblen Schimpfworten provozieren. Das ist das zweite, eindringlichere Thema des Romans: Das spannungsgeladene Verhältnis von türkischen und arabischen Jugendlichen zu deutschen Gleichaltrigen in problembehafteten Randgebieten einer Großstadt. Es bleibt nicht bei Provokationen, die Gewaltbereitschaft wird zur blutigen Aktion.
Hakan, der keine Gelegenheit ausläßt zu betonen, er sei Deutscher, versucht seine Freundesclique davon zu überzeugen, es sei sinnvoller gegen diese „Ausländer“ vorzugehen, als gegen die Nazis. Die Gruppe zerfällt, wobei deutlich wird, daß auch in diesem Kreis der Gymnasiasten ein soziales Gefälle herrscht, das ein gemeinsames Alltagsleben unerträglich werden läßt. Damit nicht genug: Wildenhain widmet sich auch der Frage, was wahre Freundschaft bedeutet, wie die Liebe das Denken eines Menschen verändert, was es bewirkt, wenn fast erwachsene Jugendliche in kaputten oder verarmten Familienverhältnisse leben und dabei noch ihre eigenen Migrationshintergründe verarbeiten müssen.
 
Ein hartes, schonungsloses Buch, das schauern läßt, obwohl es die Realität abbildet. Es ist kein moralisierender Roman, der Autor bezieht keine Stellung für oder gegen eine Gruppe. Er läßt seine Hauptakteure Darius und Hakan so agieren, wie es entsprechend ihrem Status in der Gesellschaft und ihrer Intelligenz angemessen ist, zeigt aber auch ihrer beider Gewaltbereitschaft auf. Beide Charaktere sind hervorragend und differenziert dargestellt. Selbst der türkische Gegenspieler Emre, ein vom Gymnasium geflogener Mitschüler, verdient Trost und Sympathie in seiner Hilflosigkeit, sein kulturelles Erbe mit Gewalt zu verteidigen. Obwohl er ein gepflegtes Hochdeutsch sprechen kann, setzt er aus Opportunismus immer wieder das häßliche  Kauderwelsch ein, das etliche Jugendliche, selbst Deutsche, als „coole“ Umgangssprache ansehen.
 
Das Buch endet brutal; aber versöhnlich, wenn auch nur mit Hilfe der Polizei. „Blutsbrüder“ ist ein Roman über Jugendliche für Jugendliche. Es spielt in der Jetztzeit und in Rückblenden in der Kindheit der Hauptakteure, wodurch deutlicher wird, warum sie sind wie sie sind. Ein aufrüttelnder Roman, gut geschrieben mit einer schnellen Handlung, spannend und gleichzeitig poetisch, getragen von Hakans und Darius Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben.
Meine unbedingte Empfehlung für alle Menschen, die bisher nur mit Unverständnis die scheinbar sinnlose um sich greifende Jugendgewalt wahrgenommen haben. Und da es bisher nicht in den Kontext dieser Rezension paßte, schließe ich mit dem Eingangssatz des Romans: „Nazis sind braun – Scheiße auch!“
 
Michael Wildenhain - Blutsbrüder
© 2011 Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH
Gebunden mit Schutzumschlag, 255 Seiten, ISBN: 978-3-473-35219-7
€ 14,95 (D), € 15,40 (A)
 
Weitere Informationen unter:  www.ravensburger.de