Väter, Belgier und die Philosophie

Dimitri Verhulst - "Die letzte Liebe meiner Mutter"

von Jürgen Kasten
Eine Chance für die Liebe
 
Jimmy ist elf Jahre alt und ganz gut in der Schule. Als Unterhalter ist er dort auch gelitten, denn er weiß fantastisches über seine Mutter zu erzählen, die mal in der Raumfahrt arbeitet, mal andere spannende Berufe ausübt. Im wirklichen Leben näht Martine Kunstledersitze für Motorräder in einer Fabrik zusammen, bevor sie sich zu Hause ihre Lieblingssendung „Home ist where my children cry“ im altersschwachen Fernseher anschaut - falls sie den richtigen Aufstellplatz für die Zimmerantenne findet. Später kommt ihr besoffener Ehemann heim und verprügelt sie regelmäßig. Es sind die späten siebziger Jahre in einem verschnarchten Belgien, dessen herrliche Küstenlandschaft nur zu genießen ist, wenn man mit dem Rücken zu den hässlichen Betonbauten steht, die die Landschaft verschandeln.
Irgendwann ist Martine es leid. Sie läßt sich scheiden, denn sie hat Wannes kennen gelernt. Wannes schraubt in einer anderen Fabrik Opel-Motore zusammen. Bis jetzt wohnte er noch bei Mama, doch nun ziehen die Liebenden zusammen, arbeiten fleißig, sparen sich etwas zusammen und beschließen, endlich einmal in den Urlaub zu fahren, ins unbekannte ferne Ausland, nach Deutschland. Außerdem ist das die einmalige Gelegenheit, sich unter Mitreisenden einen gemeinsamen Freundeskreis aufzubauen. Sie buchen eine Pauschalbusreise in den Schwarzwald.
 
Wer bis zu dieser Stelle das Buch in einem Rutsch durchlesen konnte ohne in Gelächter auszubrechen, dem hat sich Dimitri Verhulsts satirische Gabe nicht erschlossen. Mir jeden falls verrutschte vor Lachen so manche Zeile. Verhulst zeichnet so lebensnah ein miefiges Kleinbürgertum, daß es einem beim Lesen bildlich vor Augen steht, ohne dabei seine Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben. Von der ersten bis zur letzten Zeile ist es hinreißend geschrieben, mit anarchischem Humor, der niemanden verletzt; aber vieles bloßstellt, was vielleicht auch unserem eigenen Verhalten entspricht.
 
Die Reise in den Schwarzwald verläuft genau so, wie sich jeder Vorurteilbehafteter eine solche Urlaubsfahrt vorstellt, inmitten einer Busladung trinkender, Witze erzählender und schunkelnder belgischer Ausflügler. Jimmy, unser Protagonist, weigert sich beharrlich, Mutters Liebhaber Wannes mit „Vater“ anzusprechen. Dabei will Wannes doch nur, daß alle denken, sie seien eine richtige Familie. Seine unglücklichen Erziehungsversuche prallen an Jimmys Schlagfertigkeit ab. Zum Glück befindet sich in der Reisegruppe noch ein 15-jähriges Mädchen, die Jimmy mangels Alternativen zu ihrer ständigen Urlaubsbegleitung erklärt. Als sie im Verlaufe ihrer Gespräche einmal meint, Jimmy solle doch später Philosoph werden, gefällt ihm dieser Gedanke. Die Saat ist ausgebracht.
 
Dimitri Verhulst ist ein außergewöhnliches Erzähltalent. Der 1972 in Belgien geborene und lebende Autor hat für seine bisherigen Bücher mehrere Literaturpreise erhalten. In dem Roman „Die Beschissenheit der Dinge“ erzählt er seine eigene Geschichte. Sie wurde verfilmt und in Cannes prämiert. Flämische Kritiker bezeichnen ihn als eines der größten und wildesten Talente unter ihren Autoren. „Die letzte Liebe meiner Mutter“ kann getrost wieder als Bestseller gehandelt werden.
Durchgängiger Lacherfolg wird garantiert, der bis zum moderaten Schluß anhält, in welchem Jimmy, ein viel beachteter Philosoph und hochbetagt, sich nun auf noch eine wichtige ausstehende Begegnung vorbereitet, bevor er selber von der Bühne des Lebens abtreten muß.

Beispielbild


Dimitri Verhulst
Die letzte Liebe meiner Mutter
übersetzt von Rainer Kersten
 
© 2011 Luchterhand Literaturverlag, München
 
192 Seiten, Klappenbroschur, ISBN: 978-3-630-87355-8
€ 16,99 (D), € 17,50 (A), sFr 26,90 (CH)
 
Weitere Informationen: www.luchterhand-literaturverlg.de