Über meine Unterhose

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Über meine Unterhose
 
Erinnern sie sich noch an das Spiel der Weltmeisterschaft 2002, als sich unsere Gurkentruppe gegen Paraguay blamierte und trotzdem, wie immer, gewann? Ich bekam in der Nacht davor nicht sehr viel Schlaf. Mitten in der Nacht weckte mich mein Nachbar Herr Wiesner und schrie dabei die ganze Siedlung zusammen. Herr Wiesner stand unter meinem Fenster, mit nichts anderem als einer Unterhose bekleidet, und schrie so laut er konnte: „Ich bin ein Nichts! Ich bin ein Nichts!“
Ich schaute auf die Uhr, es war gerade vier geworden, ich öffnete mein Fenster und schrie verärgert zurück: „Lieber Herr Wiesner, Sie haben Recht, wir sind alle ein Nichts, aber doch nicht nachts um vier!“
Ich schrie: „Und außerdem Herr Wiesner, steht es einem Nichts nicht zu, nachts um vier so eine dicke Lippe zu riskieren. Gerade das Nichts zeichnet sich eher durch Bescheidenheit aus.“
Herr Wiesner schaute mich mit großen Augen an, und ich sah, daß seine Unterhose eine Schiesserunterhose war, eine Schiesser „Rebell“. Ich mußte es wissen, weil ich selber eine Schiesser „Rebell“ anhatte und der ganze Vorfall mich zu rühren begann. „Lassen sie uns ins Bett gehen“, schrie ich Herrn Wiesner, schon wieder besänftigt, zu, „ gerade vor einem so wichtigen Spiel wie das gegen Paraguay sollten wir ein wenig ausgeschlafen sein.“ Herr Wiesner, der zu frieren schien, zog seine Unterhose bis zu seinen Achselhöhlen und ging traurig wie der einsamste Mensch der Welt nach Hause.
Seitdem betrachte ich meine Schiesserunterhose mit anderen Augen. Sie erscheint mir auf einmal so ausgebollert, so, als hatte sie Herr Wiesner getragen, als wäre sie eine Paarunterhose der Wildecker Herzbuben, als gehörte sie Samson aus der Sesamstraße, als wollte sie erinnern an den dicken Elvis Presley. Wissen Sie, ich bin kein Sumo-Ringer und dränge mich überall dazwischen. Ein dicker Bauch ist  kein Airbag. Wir müssen uns zurücknehmen. Die Welt ist eng geworden, wir müssen uns zusammenreißen und Platz schaffen. Natürlich verliert eine Unterhose mit der Zeit an Form und Ausstrahlung, auch ich sah in meiner Jugend jünger aus, aber warum müssen Süßigkeiten auch so lecker schmecken? Könnte das Lecken eines Eises nicht gleichzeitig dessen Kalorienaufnahme ausgleichen? Energie statt Masse. Ich kenne Leute, die nehmen beim Küssen ab, weil sie den Partner dabei auf Händen tragen. Oh, meine Unterhose, wer überredete mich einmal, dich zu kaufen? Welches Schönheitsideal zwang mir deine Herrschaft auf? Warum gibt es eigentlich keine sexy Unterhosen für dicke Männer, oder gehört eine Unterhose schon zu den inneren Werten?
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: wenn ich meine Unterhose wäre, ich würde bestimmte Dinge gar nicht durchgehen lassen. Zum Beispiel käme mir kein Schlitz in die Tüte. Sagen wir es doch ganz deutlich: Ich brauche kein Lätzchen am Po, um hinten oder vorne bestimmen zu können. Wo meine Nase ist, ist vorne.
Ich habe mir dann eine Microfaser-Slip-Boxer L/ 6 von Eduscho gekauft. Eine Unterhose für höchsten Tragekomfort: eng, aufreizend und ungewöhnlich. Ich habe nur Bedenken, sie anzuziehen, zumal ich mich inzwischen nur im Dunkeln an- oder ausziehe, um perversen Spannern keine Gelegenheit zu geben, mich knapp gewandet ins Internet stellen zu können.
Ich habe nachgedacht. Ich habe mich vor den Spiegel gestellt und trug meine alte Unterhose und hielt neben mir die Verpackung dieser neuen Überunterhose. Ich muß sagen, ich gefiel mir so. Ich bin so geworden, weil ich viel gegessen habe. Alles andere erschiene mir sonderbar. O.K., vielleicht sah ich in meiner Schiesser „Rebell“ Unterhose nicht so aus wie der Typ auf der Microfaser-Slip-Boxer L/ 6 Verpackung. Schlimmer noch, vielleicht sah ich in meiner Schiesser „Rebell“ Unterhose genauso aus wie Herr Wiesner, aber, wir beide wissen doch, wo es langgeht, oder? Was weiß denn der braungebrannte Typ auf der Verpackung vom Leben? Weiß er vielleicht, wie vier Currywürste hintereinander schmecken? Kennt er die unglaublichen Reaktionen eines Körpers, der gerade fünf Chipstüten verarbeitet hat? Hat er mal eine Frau geliebt, während er gleichzeitig Hunger auf zwei Maultaschen hatte? Hat er Teilnahmeverbot in einem Lippstädter VHS Kursus für gesunde Ernährung und hängt als Warnschild vor allen westfälischen Diätfarmen: Hier dürfen wir nicht rein? Nein, nein, nein, heute sage ich voller Stolz: „Laßt meine Unterhose groß sein. Laßt es eine Unterhose sein, vor der man Respekt hat. Laßt es eine Unterhose sein, unter deren Dach man eine neue Heimat finden kann, egal, wie man sich herausputzt. Laßt es eine Unterhose sein, die man in Notzeiten auch als Werbefläche vermieten könnte: Ich bin zwei Öltanks.
Ich zog mich einmal vor einer Frau aus, die mir gestand, sie hätte in ihrem Leben schon vieles gesehen, aber noch nie so eine Unterhose, und dabei war sie Urologin.
Kürzlich klingelte es an meiner Haustür, und vor mir stand Herr Wiesner mit nichts weiter an als wieder seiner Unterhose. Ich kam gerade aus dem Garten und hatte mich gesonnt. Der Zufall wollte es, daß ich ebenfalls nur meine Unterhose trug. Da hätten Sie uns beide sehen sollen. Sie hätten gestaunt, welchen Eindruck zwei nackte Männer auf die Welt machen können. Zwei Männer, die nichts weiter vorzuweisen hatten als ihre ausgebollerten Schiesserunterhosen. Herr Wiesner fing gerade wieder an mich zu begrüßen mit seinem: „Ich bin ein Nichts“, als ich seinen Redeschwall stoppte und leidenschaftlich ausrief „Von wegen Nichts! Wir sind kein Nichts. Wer solche Unterhosen der Welt entgegenstrecken kann, Herr Wiesner, der hat seinen Platz dort gefunden.“ Ich fuhr fort: „Wenn man uns zusammen so sehen könnte, Herr Wiesner, dann würde man uns gern haben. Da wüßte man, wer solchen Unterhosen treu bleibt, der bleibt auch sich treu.“ Dann umarmte ich Herrn Wiesner, weil er gerade so traurig aussah, und flüsterte: „Ich traue unserer Unterhose und deren Gummizug noch immer Wunder zu. Mein Gott, unsere Unterhosen sind von A Schiesser, es sind Schiesserunterhosen vom Typ >Rebell<!“
Und dann war die Welt wieder in Ordnung und die Helden getröstet. So machten wir uns auf, es noch einmal mit allem im Guten zu versuchen. 
 
 
 
© Erwin Grosche – aus: „Warmduscher-Report“, Ardey Verlag 2003