Die Frankfurt-Reise

von Karl Otto Mühl
Die Frankfurt-Reise
 
Neulich bin ich mit dem Zug zur Verlags-Vollversammlung nach Frankfurt – hin und zurück – gefahren. Im Zug saß mir gegenüber ein Mann, der aussah wie ein höherer Beamter, aber wir fuhren ja zweiter Klasse. Ich glaube, ich redete ihn ziemlich unbefangen an. Vielleicht war das der Grund, daß er mir in Köln zum Abschied die Hand reichte.
 
Ich erinnere mich vom Ende her: Ich war abends zur Abfahrt zu früh dort, wollte es, um ein bißchen allein zu sein, saß in dem riesigen Frankfurter Bahnhof auf einer Bank auf Bahnsteig 6. Um mich eine wimmelnde Menschenmenge.
Die Frankfurter, dachte ich, sind ein eigener Typus. Ich meine, sie sehen aus wie Einzelkämpfer, die sich durchsetzen. Dagegen sehen die Bonner aus wie Studienräte und Ministerialbeamte (die es dort ja auch gibt), und wir Wuppertaler wie Bandwirker.
 
Dazwischen dachte ich an die Fahrt am Rhein entlang zurück, die steilen Ufer, alte Häuser, schön zum Niederknien, die Burgen, die erinnerten Wanderungen mit Alfred, dort über die Höhen, der ein staubtrockener, unendlich treuer Freund war. Auch hier hatte mich soeben ein treuer Freund zum Bahnhof gebracht.
 
Beim Hinweg zum Verlag am Vormittag ging ich immer am Main entlang. Auf dem Rasen lagen Schläfer (verstreut wie im Afrikakrieg die Gefallenen in der Wüste); eine junge Frau schob einen modernen Bollerwagen (Gummireifen) an der Deichsel vor sich her, sie eilte im Geschwindschritt, mühelos, obwohl sauber aufgereiht sechs kleine Kinder in blauen Warnwesten darinsaßen - ein putziger Anblick.
Am erhöhten Ufer Häuser und Mietskasernen, viele mit Balkonen, die aussahen wie Drahtkörbe, häßlich. Ein Balkon, der nicht ins Mauerwerk integriert ist, wirkt fast immer wie eine Geschwulst.
 
Zurück zum Bahnsteig. Ermüdet, ist es mir möglich, umzuschalten auf die Ebene, auf der uns keine kritische Betrachtung erreicht.
 
In diesem Augenblick weiß ich alles. Wenn ich irgendwo hinblicke, kann ich alles sehen, was ich will. Dieses Alles spricht in Bildern eine gewaltige, eindringliche Sprache, deren Bilder jedes Gemälde übertreffen: Eine Stelle am Waldrand, Abendlicht leuchtet zwischen den Bäumen; oder der Morgen, das Spatzenkonzert, das eifrige Hin- und Herfliegen der Vögel; das Morgenlicht berührt den Fenstersims am Weißen Haus, der Präsident erscheint, ein Mensch mit Armen und Beinen – man sieht hier, ich weiß alles. Die Buddhisten sagen: „Es gibt keine Lösungen, weil es keine Probleme gibt.“
Als ich zurückschalte, fallen mir viele andere ein, den es schlecht ergeht, und mir fällt all das Abscheuliche ein, das geschehen ist und immer noch geschieht. Darauf weiß ich eigentlich nur die Antwort, daß es diese Welt besser nie gegeben hätte.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2011