Die Reise nach Jerusalem und andere Erkenntnisse

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Die Reise nach Jerusalem
und andere Erkenntnisse

1. Januar: Die Fremde erschien geheimnisvoller, als man sie noch nicht kannte.
 
3. Januar: Die Reise nach Jerusalem, die wird für keinen sehr bequem, selbst wenn Du für ne kurze Rast, nen Platz für dich gefunden hast.
 
5. Januar: Der Heilige Christophorus. Mir fiel auf, daß mich schon lange niemand getragen hatte. Wie schön war es, auf den Schultern von irgendjemandem einen Fluß zu überqueren. Wie lange ist es her, daß man über die Schwelle des Hauses getragen wurde. Warum trägt der Starke nicht mehr den Schwachen? Gerade heut, wo ich so traurig bin, würde ich gerne ein Stück getragen werden, damit ich spüre, daß ich nicht allein bin. Wie schön wäre es, wenn mir geholfen wird, wenn meine Kräfte nicht mehr reichen. Also wirklich: Wenn man schon nicht mehr getragen wird, dann sollte man wenigstens bereit sein, jemand anderen zu tragen ….
 
7. Januar: Lennart hatte den neuen Nachbarn, Herrn Mehrweg, noch nie gesehen. Er kam gerade aus dem Haus, als dieser in der grünen Mülltonne stand, um die Herbstblätter nach unten zu stampfen. Er sah also nur, wie der neue Nachbar in der grünen Mülltonne herum sprang, um kurz danach aus ihr herauszukrabbeln. Herr Mehrweg hatte große braune Stiefel an und einen grünen Blaumann. Er war von der Gartenarbeit mit Erde beschmiert und auf seinem Hut thronten Blätter. Lennart dachte natürlich, daß Herr Mehrweg aus der Mülltonne käme. „Warum nicht“, sagte er zu seiner Freundin Meike. „Manche Menschen kommen aus Rom oder aus Madrid. Unser neuer Nachbar kommt aus der Mülltonne."


© Erwin Grosche - für die Musenblätter 2012
Redaktion: Frank Becker