An der Traisen

von Friederike Zelesko
 An der Traisen
 
Im Sommer waren wir fast jeden Nachmittag am Bach. Er war gleich hinter dem Haus meiner Großmutter, vielleicht hundert Meter entfernt. Dazwischen liegt der Garten, eine große Wiese mit Obstbäumen. Früher gab es einmal einen Zaun. Er war schon immer grau vor Alter. Irgendwann ist er umgefallen und meine Großmutter heizte damit den Ofen. Da es keinen Zaun mehr gibt, können wir ungehindert die Böschung hinunter zum Bach laufen. Seine Ufer sind dicht mit Weiden eingesäumt. Sein Wasserlauf ist kaum zu sehen, so schmal ist er. Nur hören kann man ihn. Das plötzliche Gurgeln des Wassers, wenn es auf einen großen Stein stößt. Das Herausschnellen einer Forelle, die nach der Mücke springt. Ich suche eine undichte Weidenstelle, rutsche mit nackten Füßen das letzte Stück der Böschung hinunter, auf Seifenkraut, rosa Dost und anderen Wasser trinkenden Pflanzen. Ich springe mit grünen Fußsohlen mitten ins Bachbett, mitten in die Welt von schillernden Libellen, die für einige Zeit in der Luft stillstehen, mit zitternden Körpern, mit unsichtbar sich drehenden Flügeln. Auch ich glaube mich unsichtbar in der grünen Höhle, in die nur ein spärlicher Himmel hineinschaut. Ich biege die Weidenruten zurück. Unter den Wurzelstöcken liegen die Rastplätze der Fische. In der lehmigen Böschung daneben nisten die Eisvögel. Eisvögel bringen Glück, sagt meine Großmutter immer. Mein Herz klopft laut, wenn ich einen Vogel sehe. Einen blauen Blitz, der von meiner Anwesenheit erschrocken, durch die grüne Wärme fährt. Weiter unten gibt es eine Furt. Dort ist eine Plattform aus Holz gebaut. Sie ragt weit in den Bach hinein. Schotter wurde aus dem Bachbett geholt, ein tiefer Trog ausgehoben. Das Wasser ist jetzt dunkel und tief, doch die Plattform fest und sicher. Die Großmutter und ich knien oft darauf, halten gewaschene Wäsche in das fließende Wasser. Dann wringen wir die Hemden, Hosen und Leintücher aus und hängen sie auf einen Wäschestrick, der von Obstbaum zu Obstbaum gespannt ist, und auf dem die Wäscheklammern tanzen. Drei Klammern wie wachsam aufgestellte Ohren für ein Leintuch, zwei für ein Hemd zähle ich und höre der Musik von flatternden Ärmeln zu. Es riecht nach Seife und Sonne und ich sehe meinen Schatten auf dem Leintuch. Ein auf und ab hüpfenden Gespenst, so wie es bei Einbruch der Dunkelheit nur die Petroleumlampe an die Wand wirft. Bei uns zu Hause gibt es noch kein elektrisches Licht. Noch weiter unten, neben dem Bauernhof, legt sich eine grob gezimmerte Holzbrücke über den Bach. Der Weg darauf führt in die Au. Dort ist der Bach schon ein Fluß, sein Wasser dunkel und tief. Wie ausgebleichte Knochen leuchten in seiner Mitte die Schotterinseln. Ich schleudere flache Steinräder über das Wasser und zähle die Sprünge. Ich kann stundenlang auf den Schotterinseln stehen und den Fluß hinuntersehen, wie er in der Biegung verschwindet. Ich werde nicht müde. Die Rast ist im Hinuntersehen mit eingeschlossen. Die Rast kann hier niemand verheimlichen. Auch die Erwachsenen nicht. Sie stehen nur am Sonntag da. Die Männer sind mit schwarzen, glänzenden Turnhosen bekleidet, die Frauen mit fleischfarbenen Kombinäschen, unter denen sie ihre Büstenhalter anhaben. Sie halten die Röcke hoch, waten vorsichtig auftretend, mit braunen Waden und weißen Schenkeln im seichten Wasser. Manchmal brechen sie in schrilles Gelächter aus, legen die Hand über die Augen oder stemmen die Hände in die Hüften. Ich liege im Schatten der Bäume auf einer Decke. Ich beobachte, wie sich die Leute auf der Böschung sonnen, oder hinter den Weidenbüschen umziehen. Obwohl ich gespannt Ausschau halte, sehe ich hinter den schwankenden Zweigen nur das kurze Aufblitzen einer weißen, nackten Haut und drehe mein Gesicht schnell weg. Einmal bin ich richtig erschrocken. Ein Mann setzt sich in das Gras, zieht die Beine an und ein Windstoß schlägt die weite Turnhose zurück. Ich sehe sein Geschlecht. Es kommt mir vor wie ein gerade geborenes, rosa Tier. Ich habe meinen Vater nie nackt gesehen, auch meine Mutter nicht. Der Vater kommt selten zum Fluß. Nur abends, nach der Arbeit, mit dem Moped. Dann, wenn die Sonne schon mild ist, der Dämmerung Platz macht. Er bringt Seife und ein Handtuch mit, wäscht sich im Fluß. Sein Oberkörper und das Gesicht sind sehr braun. Da er ständig lange Hosen trägt, sehen seine Beine gespenstisch weiß aus. Gespenstisch sehen auch die Ufer des Baches aus, nachdem die Arbeiter die Weiden herausgerissen und die Planierraupen die Ufer flach getreten haben. Auch mein Vater findet dort Arbeit. Er verdient endlich mehr Geld, sagt die Mutter und kauft ein rotes Transistorradio mit Batterien. Große, verschiedenfarbige Steine werden in das Ufer gedrückt, die Fugen mit Zement ausgegossen. Die Pflasterung hat im Nu das Grün zugedeckt, Fische, Vögel und Insekten verjagt. Vielleicht sind die Fische noch den Fluß hinunter entkommen. Vielleicht sind sie fast bis ins Schwarze Meer entkommen. Die Forellen sind jetzt leicht zu fangen, sagt der Vater. Obwohl das Fischen verboten ist, bringt er einmal fünfunddreißig Stück mit. Ich habe schnell die Türe zugemacht und die Mutter hat die Forellen gebraten. Ihre Leiber biegen sich noch einmal in der heißen Pfanne. Übersatt biegt sich nach dem Essen auch mein Leib. Es ist nicht gut die Flüsse zu regulieren, sagen die einen. Es ist gut die Flüsse zu regulieren, sagen die anderen, endlich schlafen wir ruhig, wenn das Hochwasser kommt. Doch das Hochwasser ist wie jedes Jahr gekommen. Es hat wie immer alle um den Schlaf gebracht
 
 
 © Friederike Zelesko
Erste Veröffentlichung in der Zeitschrift „Literatur und Kritik“.