Der lange Pullover

von Hanns Dieter Hüsch

© Jürgen Pankarz
Der lange Pullover
 
Haben Sie auch manchmal die schreckliche Angewohnheit, in Gedanken, die deutsche Sprache ist ja eine Wahnsinnssprache, ist eine wunderschöne Sprache und außerdem sehr präzise, hab ich festgestellt. Also, man sagt doch öfters zum Beispiel, man wirft ja manchmal zwei Sachen in einen Topf - wie „in Gedanken“ und „gedankenlos“, obwohl das zwei ganz verschiedene Dinge sind, wie „scheinbar“ und „anscheinend“. Also, haben Sie manchmal auch die schreckliche Angewohnheit „in Gedanken“ Ihren Pullover bis zu den Knien herunterzuziehen? Aber ich! Und wenn ich dann meinen Blouson über den Pullover ziehe, guckt natürlich der Pullover aus dem Blouson raus. Ich hab ja zwei Blousons jetzt, ich weiß nicht, ob Sie’s gelesen haben, zwei Blousons! Einen für den Winter und einen für den Sommer, ist ganz praktisch. Wenn ich den dickeren anziehe, weiß ich immer, jetzt ist Winter. Wir sind doch mit den Jahreszeiten alle völlig durcheinander, wir wissen doch gar nicht, was los ist. Neulich hatten wir den vorgezogenen Frühling, jetzt haben wir den nachgezogenen Winter, jetzt scheint schon wieder der vorgezogene Frühling, es ist doch, man weiß doch gar nicht, früher hatten wir doch wenigstens eine genaue Einteilung, heute weiß man doch nichts. Im Herbst ist Sommer, im Sommer ist Winter, es ist doch alles durcheinander. Und deswegen ist das so praktisch, und überall gucken bei mir aus den Blousons die Pullover unten raus, weil ich die Pullover - wie gesagt - immer so lang runterziehe. Und denn sagt meine Frau jedes Mal: „Das geht aber nicht, wie sieht denn das aus?!“ Dann sag ich: „Weiß ich doch nicht, ich kann mich doch hinten nicht sehen.“ Und dann sagt sie immer: „Da sieht ja schrecklich aus, das fällt ja alles auf mich zurück“, sagt sie denn immer. Ich weiß gar nicht, was das heißen soll, aber das sagen die Frauen ja schon seit 2000 Jahren. Ich stelle mir dann immer so’ne junge, schlanke Frau vor, da kommt eine Riesengiebelhäuserwand auf die zu mit Mörtel und Steinen und was nicht alles, und wenn sie sich am Schluß den Staub von der Kittelschürze abgeputzt hat, sagt sie: „Ist alles auf mich zurückgefallen!“ Anders kann ich mir das nicht erklären. „Ja“, sage ich, „da muß entweder der Blouson länger oder der Pullover kürzer gemacht werden.“ „Du bist ja verrückt“, das sagt meine Frau des Öfteren zu mir, fällt mir gerade auf. Ich hoffe nur, sie weiß nicht, was sie damit sagt. „Du bist ja verrückt, den Pullover kürzer, den Blouson länger, du ziehst ja den Pullover immer bis an die Knie runter.“ ja, da muß ich ihr Recht geben. Wie ich schon sagte, ich ziehe alle meine Pullover immer fast bis ans Knie runter. Das sieht dann so aus wie ein Kettenhemd, wie bei den alten englischen Earls, die haben Sie doch sicher auch gekannt. Die alten englischen Earls, die haben Sie ganz bestimmt gekannt, die habe ich öfters auf´m Markt getroffen, die alten englischen Earls. Den Earl of Huntingdon beispielsweise und den Earl of Nottingham, und den alten Earl of Strawsberry, sehr nett, sehr nett. Macbeth war ja auch’n Earl, habe ich auch mehrmals getroffen. War’n ganz netter Mann, ganz bescheiden, soll man gar nicht denken, ein ganz einfacher Mann. Das war ja alles sie, sie war das ja alles. Die Käthe Macbeth, ich weiß nicht, ob Sie sie kennen. Tüchtige Frau, tüchtige Frau! Wissen Sie, wie der Macbeth ausgesehen hat, ungefähr so wie ich, ungefähr - nicht genauso, sonst sähe ich ja aus wie Macbeth, aber ungefähr so wie ich. Ich meine, in dem berühmten Stück von Shakespeare, da kommt ja dieser Wahnsinnssatz drin vor: „Ich wußte gar nicht, daß in dem alten Mann noch so viel Blut ...“ -erster Mörder zum zweiten Mörder. Beide lachend ab - Shakespeare! Beide lachend ab - das ist Kunst - beide lachend ab! Das hat uns doch alles der Lehrer Wolf erzählt, da mußten wir doch immer, wenn der morgens in die Schule kam, sofort aufspringen und singen Jesu geh voran, auf der Lebensbahn - und der ist ja auch später an Schilddrüsenkrebs gestorben. Der Lehrer Wolf! Der hatte immer diesen langen, grünen Lodenmantel an. Richard III., der hat ja auch immer so´n Kettenhemd getragen, Richard III. in der Schlacht - weiß ich nicht mehr - in der Schlacht bei Dings, also, ist auch egal jedenfalls nicht bei Hastings, nicht bei Hastings. Das war 1066, das laß ich mir nicht nehmen. Ist ja schon ’ne halbe Schnapszahl, es sind ja immer die Schnapszahlen. Genau wie 333 Issus Keilerei, das wissen Sie ja noch von der Schule. Obwohl, ich behalt ja besser die Namen als die Zahlen, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, also Zahlen bei mir völlig aussichtslos - höchstens die Telefonnummern im engsten Familienkreis. Aber Namen, wenn’s historische Namen sind, wie Susa oder Persepolis oder Ekbatana, da hat sich ja damals der große Alexander von Mackedonien überall rumgetrieben. Wahrscheinlich auch mit seinem Kettenhemd an. Wenn der heute noch leben würde – „er lebt aber nicht mehr“, ruft dann meine Frau immer aus´m Hintergrund. Ich sag ja nur, „wenn“, ich hab ja nur gesagt, „wenn“! Wenn der heut noch leben würde, dann würd der ganz bestimmt auch seinen Pullover bis auf die Knie runterziehen. Wie ich den kenne - Alexander von Mackedonien. Übrigens hat meine Frau gesagt: „Das heißt Mazedonien - und nicht Macke.“ Ich sag Mackedonien, weil ich eine Macke habe - man sagt ja auch Macke - und nicht August Matzke, mein Lieblingsmaler. August Macke - ist mein Lieblingsmaler, auch Rheinländer. Der malt immer so wunderschöne Frauen so mit großen Hüten, die stehen alle auf der Promenade, gucken immer auf den Rhein, wunderbare Bilder! Früher war ja Lyonel Feininger mein Lieblingsmaler, ich weiß nicht, ob Sie den kennen. Lyonel Feiniger hat ja den Prismaismus erfunden, Prismaismus, das ist also, wie soll ich sagen, wir hatten doch früher so Klippsteine, da konnte man so durchgucken, und alles war so gebrochen, so Tausendgucker nannten wir die. In der Volkshochschule würde man von einem kubistischen Futurismus sprechen. Oder von einem futuristischen Kubismus. Sie wissen das ja, es gibt da so Kurse. Wir lernen Finnisch beim Malen, oder wir lernen Malen beim Finnisch, oder so. Klammer auf - bitte eine Wolldecke mitbringen - Klammer zu! Wenn möglich, Naturfaser! Freitags bringen sie alle eine vegetarische Einlage als Umlage mit oder eine Umlage als Einlage, das weiß ich nicht so genau. Ich hab nur jetzt festgestellt, daß wir Niederrheiner, ich schweif jetzt sowieso ab, kann ich auch noch’n bißchen mehr abschweifen, daß wir Niederrheiner - ich bin ja Niederrheiner, das wissen Sie ja, daß wir auch, weil wir oft nix wissen, wir wissen ja meistens nix, daß wir dann auch als Schutzmittel „nehme ich mal an“ sagen, „das nehme ich stark an“, sagen. Wir haben keine Ahnung, was da besprochen wird, sagen aber: „Ist anzunehmen, ist anzunehmen“, wissen aber gar nichts. Oder wir sagen auch oft  „Ja, sicher“, obwohl der andere noch gar nicht seinen Satz zu Ende gesprochen hat. Sagen wir schon in der Mitte des Satzes „Ja, sicher“, obwohl wir noch gar nicht wissen, was der andere eigentlich noch alles sagen will. Also, wenn einer sagt ,,Alexander von Mackedonien hatte in der Schlacht" - sagen wir gleich „Ja sicher“, obwohl jetzt erst noch kommt „in der Schlacht von Ekbatana kein Kettenhemd an“. Ich meine, ich weiß nicht genau, ich nehm das stark an. Weil er doch so’n Draufgänger gewesen sein soll und noch so jung. Ja sicher, warum auch nicht. Und brauchte seinen Blouson nicht über das Kettenhemd zu ziehen. Das sind ja so Augenblicke, wo meine Frau wirklich nichts mehr sagt, sondern stumm aus dem Raum geht. Also nicht still aus dem Zimmer, das ist ein großer Unterschied, sie geht stumm aus dem Raum! Und das heißt, ich hab mir das so eingeteilt, stumm aus dem Raum - das ist sophokleisch, und still aus dem Zimmer - das ist Biedermeier.  Sie geht stumm aus dem Raum, bis ich mich wieder beruhigt hab. Denn, wenn ich einmal assoziativ in Fahrt bin, hält mich kein Mensch mehr auf.
 


Aus: "Meine Geschichten" (1996) / Der Große Hüsch, Band 2 (2011)


© Chris Rasche-Hüsch/ Verlag Kiepenheuer & Witsch
Veröffentlichung aus "Der Große Hüsch, Bd. 2" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Die Zeichnung stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.