Abende von Berlin – Straße 201

Ein Hauptstadtfeuilleton

von Jörg Aufenanger

Jörg Aufenanger - Foto © Frank Becker
Abende von Berlin VI –
Straße 201
 
Straße 201, Nummer 1. Was für eine Adresse. In Berlin, Metropole, Hautstadt! Kürzlich war ich dorthin zu einer Geburtstagsparty von einer Freundin eingeladen. Ich hatte die S-Bahn nach Pankow genommen, ja die Machthaber von Pankoff, wie Adenauer immer sagte, als die DDR-Führung dort noch residierte, wie auch ich einen Sommer lang kurz nach der Wende, doch das ist eine andere Geschichte. Am Garbatyplatz stieg ich in einen Bus um, und der hielt schließlich an der Einfahrt zur Straße 201. Ein wenig ungläubig schaute ich mir das Straßenschild an, 201 war da tatsächlich zu lesen. Dann das Haus Nr. 1, ein eher unscheinbares Gebäude, 40er, 50er Jahre wohl, ein wenig Bauhausabklatsch. Es war dunkel, ich schlich um das Haus, sah nichts Besonderes, klingelte, ein Mann, den ich nicht kannte, öffnete mir, schaute mich skeptisch an, ja ich bin ein Wessi, sagte ich nicht, dachte ich, und dennoch führte er mich hinein, in eine Halle. Da sah ich etwas, was ich nicht glauben konnte, und es war kein Traum. Ich hätte mir die Augen reiben sollen, sie vielleicht schließen und wieder öffnen, aber da hätten sie immer noch gestanden, und ich zwischen ihnen, zwischen Stalin, Lenin, Thälmann, Pieck, Ulbricht, sie überlebensgroß, ich lebensklein. Wohin bin ich geraten? Ich muß sehr entgeistert geschaut haben, als die Freundin, Conny, auf mich zukam. „Da guckste, wa?“, meinte sie. „War das Atelier von Ruthild Hahne!“ Mehr sagte sie nicht, bot mir einen Sekt an, natürlich Rotkäppchen halbtrocken, immerhin nicht lieblich, „und hier ist das Büffet, bedien Dich!“ Ich versenkte meine Blicke ins Glas und ins Büffet, traute mich nicht, mich umzuschauen, nicht, daß ich mich vor den kommunistischen Riesen gefürchtet hätte, war ja alles Geschichte, beziehungsweise ihr Müllhaufen. Doch wer weiß?
 
Der Abend verlief unaufgeregt, alle bewegten sich zwischen den ehemaligen Machthabern, als wäre es das Natürlichste der Welt, daß ein Stalin auf einen herabschaut oder ein Thälmann. Doch ich wollte wissen, traute mich aber nicht zu fragen, ich war wohl der einzige Gast aus dem Westen, und da hält man sich zurück. Ich schaute mir die Angelegenheit genauer an. Durch den Raum führten Schienen, nun gut, das kannte ich aus anderen Bildhauerateliers, irgendwie müssen ja die Großplastiken transportiert werden. Ich blickte in den Garten, auch dort waren Schemen von Figuren zu erkennen, oder sah ich etwas, was gar nicht da war? Da kam der Hausherr auf mich zu, überaus freundlich und es stellte sich heraus, er war der Erbe. Einer Bildhauerin. Und die hieß Ruthild Hahne. Und der Ort war ihr Atelierhaus, das er nun allein bewohnte, tätig war sie in der Berliner Akademie der Wissenschaften. Doch wer war diese Ruthild Hahne? Hatte sie diese Monster geschaffen?
Der Erbe stellte sich vor, Stefan Grunert, und distanziert freundlich erzählte er mir, wer diese Ruthild Hahne war, 1910 geboren, Turnlehrerein, mit 20 Jahren Tänzerin bei Jean Weidt, der die „Roten Tänzer“ gegründet hatte, Kommunisten, wie sie auch. Dann Studentin an der Hochschule der bildenden Künste, unter anderem Schülerin von Arno Breker, dem Lieblingsbildhauer Adolf Hitlers, der Monumentalplastiken arischer Männer schuf, 1941 hatte sie ein Stipendium der römischen Villa Massimo erhalten, wie zuvor ihr Lehrer Breker und auch Fritz Cremer, ihr späterer Nachbar in Pankow und Konkurrent in der Gunst der Machthaber im Staat DDR.
 
Da sie dem Widerstand und der „Roten Kapelle“ angehörte, wurde sie zu einigen Jahren Zuchthaus verurteilt, ihr Lebensgefährte hingerichtet. Nach dem Ende der Naziherrschaft sollte alles anders, gerecht und friedliebend werden, Hoffnung DDR, und sie begann diese Monumentalplastiken der kommunistischen großen Männer zu schaffen. Aber auch Portraits von Kindern. 1953 bezog sie das Atelierhaus in der Straße 201 in Pankow- Niederschönhausen, wo die DDR-Führung viele Künstler angesiedelt hatte, Heinrich Mann, Stefan Hermlin, Arnold Zweig, Erich Weinert, Max Lingner, Fritz Cremer, Hanns Eisler, Ernst Busch. Unweit davon östlich der Grabbeallee residierten sie selbst, Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht, Kurt Maron, Johannes R. Becher, der Kulturminister. Im sogenannten Städtchen, gut bewacht in ihren bescheidenen Villen, die Machthaber von Pankow, bevor sie sich nach der Kubakrise draußen nach Wandlitz verzogen. In ein künstliches Abseits. Des Volkes.
 
Der Majakowskiring macht eine Runde in dem Städtchen, an ihm lagen und liegen die Häuser. Der Zufall wollte es, und da beginnt die andere Geschichte, die mich betrifft, daß ich einen Sommer lang in der Villa Otto Grotewohls gelebt habe. Majakowskiring 48. Das Haus, in dem ich in Schöneberg Anfang der 90er Jahre wohnte, wurde renoviert, Lärm und Staub machten das Dortsein unmöglich, also ging ich mit meiner damaligen Freundin Judith Kuckart zum Senat - Literaturreferat- fragte nach einer anderen Behausung. Der Schriftstellerverband der DDR sei doch gerade aus der Grotewohlvilla ausgezogen, ob ich nicht da für einige Wochen oder Monate wohnen wollte. Wollte ich, also zog ich im Sommer 1991 hinüber in den Osten, der damals noch sehr ostig war. Die Villa stand komplett leer, zwei Zimmer unterm Dach wurden zum temporären Zuhause, es gab noch einen Hausmeister und drei Zugehfrauen, die aber nichts mehr zu tun hatten, und so fütterten sie die Katzen im Hause Pieck. Zumeist hatten wir die ganze Villa und den riesigen Garten für uns, also feierten wir an den Wochenenden ausschweifende Partys. Freitags nachmittags kamen indes die alten Funktionäre, die noch in der Nachbarschaft wohnten, mit ihren Frauen ins Haus, da es im Keller eine Sauna gab, die der Hausmeister angeheizt hatte, und sie schwitzten nackt im Keller Grotewohls.
Die absurdeste Szene ereignete sich aber, als ich eines Abends im Wohnzimmer Grotewohls vor dem Fernseher saß. Es wurde ein Dokumentarfilm über die Geschichte der DDR gezeigt, und da sprach Grotewohl in der Volkskammer zu mir, der ich doch in seinem Wohnzimmer saß. Zwei Wirklichkeiten, die ich kaum fassen konnte.
 
Gingen wir spazieren durch das Städtchen, so begegneten wir allabendlich Egon Krenz, der im häßlichsten Haus der Siedlung, Flachbau 70er Jahre, wohnte, und uns in seiner unnachahmlichen, jovialen Art grüßte. Kamen wir am Haus vorüber, wo Lotte Ulbricht, ja die Witwe, noch wohnte, ging die Gardine zur Seite und sie schaute, wer da über die Straße ging.
Alles hier, der Einkauf in der Kaufhalle, das Postcafé, das Restaurant am Bürgerpark, die Gartenbibliothek im Bürgerpark, war eine Art Anschauungsunterricht für uns Wessis, was die DDR wohl mal gewesen sein muß. Natürlich kamen wir auch in das Künstlerviertel, doch die Straße 201 und das Bildhaueratelier hatten wir damals nicht entdeckt.
Absurd anmutende historische Relikte sind da heute noch versammelt, Curiosa für uns im Westen aufgewachsene, da wir keine wirkliche Geschichte mit ihnen haben. Und doch schien es mir, als ob sie auf mich beklemmender wirkten als auf diejenigen, die eine Geschichte mit ihnen haben. Die Partygäste, allesamt ehemalige Bewohner der DDR, bewegten sich zwischen Stalin, Ulbricht, Thälmann und den anderen, als ob sie zum täglichen Inventar auch ihrer Wohnungen gehörten.
Gar mit einem gewissen Schauder im Rücken habe ich heimlich, ohne Adieu zu sagen, das Haus verlassen, an der Ecke noch auf den Bus gewartet, gehört, wie inzwischen Musik aufgelegt und sicherlich der DDR-Disco-Fox dazu getanzt wurde, zwischen den Größen der kommunistischen Geschichte.
 
 
Jörg Aufenanger