Die Freundin (1)

Erzählung

von Safeta Obhodjas
Die Freundin
Erzählung
 
Von Safeta Obhodjas
 
Schon seit drei Tagen versuche ich, die Worte zu vergessen, die ich am Montagnachmittag ausgesprochen habe, versuche, die Erinnerung an Sonjas verzerrtes Gesicht loszuwerden. Kaum hatte ich begonnen zu reden, verwandelte es sich in eine Maske, zerknautscht und blaßblau, eine Maske, in der riesige Augen glänzten, Augen, ausgefüllt von einem Schrei des Entsetzens. Diese Maske begleitet mich seither durch meine Wohnung, folgt mir in die Küche und in mein Zimmer. Ich kann mich weder im und noch unter dem Bett verstecken, es gibt keinen Ort, an den ich mich zurückziehen könnte. Überall höre ich ihr schreckliches Flüstern: ‘Warum, Dana, warum?’ Ich weiß keine Antwort, es existiert keine. Ich habe eine Antwort gesucht, und ich habe versucht, mein Verhalten zu erklären. Das einzige, worauf ich gekommen bin, das ist, daß ich in diesem Moment verrückt gewesen sein muß, daß irgendeine mir fremde Macht meinen Verstand gefangen gehalten und erst zurückgegeben hat, als alles vorüber war. Ja, sicher, so muß es gewesen sein. Nur mit Wahnsinn kann man die Vernichtung einer Freundschaft erklären, die ich durch Jahre hindurch gehegt und gepflegt habe, an die ich glaubte, und die für mich wertvoller war als alles andere, das ich besaß.
 
Unsere Freundschaft begann in der Mittelschule, festigte sich während des Studiums und hielt so schön und sicher bis in die reifen Jahre. Und vor drei Tagen habe ich sie. Es war die Gelegenheit, um mich Sonja gegenüber für alles zu revanchieren, was sie für mich getan hatte. Und ich
In den schwersten Augenblicken meines Lebens hat sie mir beigestanden. Und ich war schon immer jemand, an den sich das Unglück wie eine Klette heftet. Sobald ich über Hindernisse stolperte, reichte Sonja mir ihre Hand, um mir wieder aufzuhelfen. Gemeinsam fingen wir unser Medizinstudium an. Im ersten Jahr hatte ich keine besonders guten Zensuren, aber nichts deutete darauf hin, daß ich mich schon im zweiten in den Schlingen der Anatomie verfangen würde. Diese Prüfung setzte mir dermaßen zu, daß ich das Studium aufgeben wollte. Sonja schlug mir vor, die Fakultät zu wechseln und mich für Psychologie einzuschreiben. Sie half mir im letzten Augenblick. Ich hatte schon ein Jahr verloren. Ich war kurz davor gewesen, wieder in meine kleine Stadt im Osten Bosniens zurückzukehren. Das Psychologiestudium interessierte mich, relativ leicht legte ich die Prüfungen ab, doch zurück blieb eine leise Trauer um meinen Kindheitstraum, Ärztin zu werden.
Als ich mein Diplom erhielt, war Sonja im Aufbau ihrer Karriere schon bedeutend vorangekommen. Alles eroberte sie leicht. Ihre fröhliche, offene Natur, die gesunde Wißbegier ihres Intellekts, der Wissen förmlich aufsaugte, die Hingabe an den Beruf, das alles brachte sie stets in die Nähe bedeutender Leute, die ihr beim Weiterkommen halfen. Schon zwei Jahre nach dem Abschluß ihres Studiums war sie Fachärztin. Erleichtert wurde ihr das durch eine stürmische Liebesbeziehung mit einem angesehenen Professor der Universität, der Mitglied in der Fachkommission war. Es folgten Studienreisen nach Deutschland und Amerika. Dort verliebte sie sich in einen Schweizer, und wahrscheinlich wäre sie fort gegangen, um in einer modernen Klinik für Innere Medizin in Zürich zu arbeiten, wenn dieser Mann, mit dem sie lebte und den sie aufrichtig liebte, nicht plötzlich erkrankt und gestorben wäre. Sie kehrte nach Jugoslawien zurück. Lange hütete sie das Andenken an den verlorenen Mann. Ihre Gefühlsleere trieb sie zu noch mehr Arbeit an. Mit etwas mehr als dreißig Jahren war sie Chefärztin in einem Diagnose-Zentrum. Nicht genug damit, bewarb sie sich um den Posten eines Direktors im Institut für den Gesundheitsschutz der Industriearbeiter. Sie hatte die Wahl. Sonja konnte immer wählen. Und dann traf sie Denis. Wenn er nicht gewesen wäre
 
Wann immer ich mich mit ihr verglich, empfand ich einen tiefen Schmerz. Sie konnte sich die Arbeit aussuchen, sie besaß die kostbare Erinnerung an eine Jugendliebe, sie hatte Denis getroffen. Und ich? Warum blieb mir so wenig, fast nichts?
Am Ende des Studiums konnte ich nicht wählen. Die erste Anstellung bekam ich an einer Mittelschule, zu der ich einen Weg von mehr als einer Stunde hatte. Das Schulgebäude war eine Festung, eine ehemalige österreichisch-ungarische Kaserne. Das Dach leckte, Ruß drang durch die Wände, die Kachelöfen qualmten, in den Toiletten quoll die Kloake aus den Abflußrohren. Dort blieb ich fünf Jahre. Crnjanski schrieb, daß damals, zur Zeit des volksfremden Regimes, durch die Gänge des Belgrader Gymnasiums ein Bach aus der Kanalisation floß. Jetzt war die Regierung eine nationale, aber in den Schulen. Ich verdiente so wenig, daß ich hätte hungern müssen, wenn ich mir hätte Kleider kaufen wollen.
Der Bericht über diese Schule damals hat mich abgelenkt. Ich will nichts mehr darüber sagen, aber die fünf Jahre sind verloren, und ersetzen kann ich sie nicht mehr. Ich erinnere mich nicht, Sonja jemals von der Arbeit an dieser Schule erzählt zu haben, von diesen verlorenen Jahren. Nein, sicher nicht, denn sie hätte mir nicht geglaubt. Sie betrat niemals ein Gebäude, das einer österreichischen Festung glich. Sie erzählte, daß sich das Institutsgebäude in einem schrecklichen Zustand befand, als sie dort anfing. Aber es war ein Palast im Vergleich zu Sonja hatte, neben all ihren Begabungen, auch immer das Bedürfnis, zu dominieren, anderen zu zeigen, wie viel sie konnte und wie viel sie wert war. Sie besuchte Fabrikdirektoren, das Gesundheitsministerium, die Sekretariate der Republiken, sie rief alle einflußreichen Freunde und Verwandten an, bis sie die Mittel zur Renovierung des Institutes aus ihnen herausgelockt hatte. Sie entwickelte sich zu einer großen Direktorin, ohne die das Institut nicht mehr auskam. Sie wurde unersetzlich. Sie verstand es, sich in Szene zu setzen, und bald fiel es niemand mehr auf, daß sie schier alles in der Hand hatte. Ich habe niemals herausgefunden, was die Leute dazu brachte, ihr so zu vertrauen.
 
Welche Chance hatte dagegen ich? Keine! Die Nationalregierung schien vergessen zu haben, daß Menschen auch im Sozialismus eine Seele haben. Endlich kam ich von der Schule weg in die Ambulanz eines Bergwerks. Die Bergleute brauchten mich nicht. Wenn ihnen schwarz vor Augen wurde, dann holten sie sich ihre Medizin in Lokalen, wo Kellnerinnen mit nackten Schenkeln und Brüsten bedienten, bei schlechtem Schnaps und noch schlechterer Musik.
Wenn Sonja nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, ob ich mich aus dieser Ambulanz herausgerissen hätte. Sobald sie aus Deutschland zurückgekehrt war, suchte sie mich auf. Im letzten Jahr hatte ich aufgehört, ihr zu schreiben; ihre Briefe, in denen sie mich mit ihrer Begeisterung für Ordnung und Arbeit in anderen Ländern überschüttete, hatten nur den Erfolg, daß ich mich elend und wertlos fühlte. Noch lange nach dem Lesen empfand ich Bitterkeit und Neid.
Als ich Sonja in der Tür des Hauses erblickte, in dem ich wohnte, kam es mir vor, als ob der ganze von Kohle geschwärzte Bergwerksort im schönsten Licht erstrahlte. Wir umarmten uns, und diese Umarmung brachte uns von neuem nahe, für immer, wie mir schien.
Sie blieb, um bei mir zu übernachten. Die ganze Nacht lang erzählten wir. Eigentlich erzählte sie, und ich hörte zu. Alles, was sie erlebt hatte, kam mir wunderschön und großartig vor. Ich weinte mit ihr, als sie mir von dem Mann berichtete, den sie verloren hatte. Ich selbst hatte so gut wie nichts zu sagen. Ich hatte nichts Besonderes getan, die meiste Zeit lebte ich allein. Eine nur kurze Liebesbeziehung mit einem Bergwerksingenieur blieb mir als ein unbestimmtes Auflodern meiner Sexualität im Gedächtnis und hinterließ einen faden Geschmack. Sie besaß die Erinnerung an eine wunderschöne Liebe, sie hatte ihre Qualifikation, ihr Ansehen, sie konnte sich ihren Arbeitsplatz aussuchen.
 
Nachdem Sonja zurückgekehrt war, wurde alles anders. Zuerst fand sie für mich eine Stelle als Psychologin in einer städtischen Kindereinrichtung, und als sie später ins Institut hinüberwechselte, verfügte sie einfach, ich solle mit ihr kommen. Im Institut ging es mir wirklich vom ersten Tag an gut, ich glaube, daß ich damals zum ersten Mal meine Traurigkeit wegen des mißglückten Medizinstudiums vergaß. Während jener Augenblicke, in denen ich meine Gedanken über die geistigen Fähigkeiten von Menschen aufschrieb, von denen das Leben anderer abhing, fühlte ich mich groß und stark. Alles war ausgefüllt von meiner Größe. Ich wurde zur Vorsitzenden des Verwaltungsausschusses gewählt. Jetzt war ich auch für Sonja wichtig. Wenn ich sie nicht unterstützt und neben ihr gestanden hätte, hätte sie wahrscheinlich nicht so einfach die Zustimmung dazu bekommen, von unserem Gehalt einen Teil zur Modernisierung der Institutseinrichtung abzuzweigen. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß ich in letzter Zeit für sie unersetzlich wurde.
 
Ich schwöre, ich wollte sie nicht vernichten. Ungeheuerlich auch der Gedanke, ich hätte sie überredet, um eines höheren Gehaltes willen den Rücktritt einzureichen, aber später den Verwaltungsausschuß veranlaßt, ihr den Rücktritt vom Direktorenposten zu bewilligen. Ich liebte sie, ich wollte ihr und auch Denis helfen. Ich rief sie an, um ihr das zu sagen, aber als ich ihre Stimme hörte, blieb mir die Stimme weg. Einmal stotterte ich: “Sonja, er ist schuld... Denis ist an allem schuld.” Sie legte nur den Hörer auf. Nein, ich kann nicht Denis schuldig sprechen. Es war Wahnsinn, mein Wahnsinn. Aber wenn er nicht gewesen wäre...
Daß sich für Sonja etwas Schönes ereignete, verrieten mir zuerst ihre Augen und das Gesicht. Sie strahlte, verschwunden waren ihre tiefen Augenringe, sie rauchte nicht mehr eine Zigarette nach der anderen. Ein, zwei Wochen vergingen, und sie hatte mich nicht einmal zu sich eingeladen, und meine Einladungen lehnte sie mit vorgeschobenen, nicht überzeugenden Gründen ab. An einem Freitag lud ich sie ein, gemeinsam eine Theaterpremiere anzusehen, ich hatte schon Karten besorgt. Sie lächelte und schaute mich fast mitleidig an: “Ich kann nicht, Dana”, sagte sie. “Jemand wartet auf mich. Ich erzähle es dir, wenn ich sicher bin, daß das alles kein leeres Geschwätz ist.”
‘Ich wünschte, es wäre so’, dachte ich, während ich ihr, die eilig wegging, nachsah. Sie hatte meine Verzweiflung und die Angst vor den zweieinhalb leeren Tagen, die nun auf mich warteten, nicht bemerkt. Ich wollte nach ihr greifen und sie zurückhalten. ‘Wohin willst du, Sonja? Du hast das schon gehabt, ist dir das nicht genug? Warum teilst du nicht mit mir, ich möchte auch, daß jemand auf mich wartet... Ist es nicht grausam von dir, mich das ganze Wochenende allein zu lassen?’
Schon seit einiger Zeit quälte mich die Einsamkeit. Und während solcher Tage war sie wirklich unerträglich. In der Menschenmenge des Theaters war es noch schwerer, ich war verzweifelt allein. Diese Empfindung linderte auch nicht der Gin, den ich in einem Hotelrestaurant trank. Ich ging nach Hause. ‘Und auf sie wartet jemand’, dachte ich, während ich dem Klang meiner einsamen Schritte zuhörte. Ich weiß nicht wie, plötzlich stand ich vor ihrem Haus. Ich wollte zu ihrer Wohnung hinaufsteigen, an der Tür klingeln und sie bitten, mich einzulassen. ‘Warum habe ich nie jemanden getroffen, der auf mich wartet?’ dachte ich. Mein letzter Liebhaber war verheiratet gewesen und hatte niemals ernsthaft mit mir gerechnet. Viele Nachmittage wartete ich darauf, daß er an der Tür läuten würde. Und das konnte nur an Arbeitstagen sein, die Wochenenden gehörten seiner Frau und den Kindern.
Ich ging nach Hause, schüttete noch mehr Gin in mich hinein und schlief betrunken und weinend ein.



Lesen Sie am kommenden Sonntag den zweiten Teil der Erzählung.
© Safeta Obhodjas

Redaktion: Frank Becker