Schicksale

Lukas Hartmann - "Räuberleben"

von Frank Becker
Schicksale
 
Wer zwischen den Buchdeckeln von Lukas Hartmanns jüngstem Roman "Räuberleben" nun auch eine veritable Räuberpistole in Sinne von Hauffs „Wirtshaus im Spessart“ zu finden erwartet, gar ein heiteres Räuberleben wie in der Kurt-Hoffmann-Verfilmung (1958) des Hauffschen Stoffes, wird enttäuscht sein. Dieser Roman über den berüchtigten Räuber Johann Jakob Reinhardt (1742-17. Juli 1787), genannt Hannikel, seine Verhältnisse und sein Schicksal ist der Versuch einer nicht zuletzt rechtsphilosophischen Annäherung an ein historisches Phänomen.
 
Welt im Wandel
 
An der Schwelle zwischen Absolutismus und Aufklärung wird im Spätsommer 1786 der gefürchtete Räuberhauptmann Hannikel, der mit seiner vagabundierenden Bande im deutschen Südwesten Schrecken verbreitet und vor allem unter jüdischen Kaufleuten und evangelischen Pfarrern gewütet hatte, im Liechtensteinischen Vaduz gefangen und nach Württemberg gebracht. Auslöser der beispiellosen Verbrecherjagd war der von mehreren Tätern gemeinsam begangene grausame Rachemord an dem Herzoglich-Württembergischen Grenadier Christoph „Toni“ Pfister, einem abtrünnigen Zigeuner. Die Inhaftierung Hannikels und seiner Mittäter ist dem energischen Betreiben des Oberamtmanns Jakob Georg Schäffer aus Sulz am Neckar zu danken, der mit Hilfe einzigartiger vom Schreiber Wilhelm Grau erstellter Verbrecherlisten auch den Rest der Bande dingfest machen kann. Vor dem Sulzer Gericht werden nach monatelangen Vernehmungen und Ermittlungen vier Haupttäter aus der Sinti-Familie der Reinhardts zum Tod durch den Strang, andere zu Festungshaft oder Einweisung in Zucht- und Waisenhaus verurteilt.
 
Auf diesen Tatsachenboden gründet Lukas Hartmann ein vielschichtiges Portrait jener Zeit mit ihrer Moral- und Rechtsauffassung, die sich von der hergebrachten Folter abwendet. Es ist ihm dabei nicht vordergründig daran gelegen, abenteuerliche Geschichten von Räuberromantik und grausamen Verbrechen zu erzählen. Auch will er kein dreidimensionales Bild des Verbrechers Hannikel zeichnen. Gewiß finden die Taten Erwähnung, doch geht es Hartmann um mehr. Er will das Bewußtsein im Herzen und in den Köpfen der Menschen damals skizzieren, die Lebensumstände der Protagonisten deutlich machen und parallel zueinander die Unausweichlichkeit schicksalhafter Verknüpfungen aber auch die Möglichkeiten humanistischen Umdenkens aufzeigen. Das gelingt in dem 346 Seiten starken Roman auf fast beklemmend hautnahe Weise. Bis hin zum Tod der Verbrecher am Galgen ist der Leser allen Beteiligten stets nah.
 
Menschen und Mächte
 
Daß Hartmann dabei den Blick wechselnd auf die Verbrecher und ihre Lebensweise, auf die konsequente Verfolgung von Recht und Gesetz – wie es damals galt – durch den Oberamtmann Schäffer, das Mitfühlen des Amtsschreibers Grau und auf die abgesetzte Gedanken- und Gefühlswelt des damals regierenden Herzogs Karl Eugen von Württemberg richtet, gibt dem Buch die historische Authentizität, die einen guten Tatsachenroman ausmacht. Wir erfahren, ohne daß übermäßig mit grausamen Einzelheiten gewuchert würde, von den Verbrechen der Hannikel-Bande, aber auch vom elenden Leben der von der staatlichen und bürgerlichen Gemeinschaft a priori ausgeschlossenen Sinti und Jenischen. Wir erleben eine prachtvolle Lustjagd des Herzogs und seiner völlig abgehobenen adligen Gäste, deren Jagdprivileg unantastbar über dem Eigentumsrecht der Bauern an ihren Feldern und Äckern thront. Der Leser wird Augenzeuge der grauenhaften Zustände in Waisenhaus und Gefängnissen. Bildhaft treten die kleinbürgerlichen und wenig glücklichen Lebensbedingungen der unteren und mittleren Beamten vor Augen, und mit erstaunlicher Einfühlung und Mitgefühl weiß Hartmann die in dessen Verhältnissen ebenfalls schweren Lebensumstände des Herzogs zu schildern. Es ist in jeder Hinsicht das ganze pralle Leben.
 
Ein Entwicklungsroman
 
Mit der Beschreibung der häuslichen und familiären Verhältnissen des verwitweten Schreibers Grau, seiner Seelenqual über das Schicksal besonders der Kinder der Verbrechersippe und schließlich seiner wissenschaftlichen Leidenschaft für die Entomologie sowie mit dem fiktiven Briefwechsel Graus mit dem dänischen Insektenforscher Johann Christian Fabricius wird dieses Buch in erster Linie eigentlich ein berührender Entwicklungsroman über Wilhelm Grau, dessen Korrespondenz mit Fabricius auch den äußeren Rahmen für den Roman hergibt. Mit der gewohnt sorgfältigen Recherche - von den Personen Hannikel und Schäffer über Fabricius und Johann Baptist Herrenberger, den ersten Verfasser eines Wörterbuchs der Gaunersprache und über den großen Stadtbrand von Sulz  - knüpft Hartmann mit seinem neuen Buch an sein Prinzip an, jedes Mal etwas völlig neues zu schaffen. Man wird „Räuberleben“ nicht mit Hartmanns früheren Romanen vergleichen können – es sei denn mit einer Gemeinsamkeit: ihrer enormen literarischen Qualität.
 
Lukas Hartmann – „Räuberleben“ - Roman
 C 2012 Diogenes Verlag,  346 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag
 
Weitere Informationen:  www.diogenes.ch  und  www.lukashartmann.ch