Der liebe Gott in Dinslaken

von Hanns Dieter Hüsch

© Jürgen Pankarz
Der liebe Gott
in Dinslaken
 
Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, daß ich ja neulich - naja, es ist ja nun schon fast anderthalb Jahre her - für ein paar Wochen im Himmel war. Ich hatte ja den lieben Gott in Dinslaken getroffen, und seine Schwester hat ja auch in Dinslaken eine kleine Wäscherei, klein, aber fein, muß man sagen, und der Mann von seiner Schwester, also sein Schwager, der hat so eine Rückgratsache und da ist er sehr oft bettlägrig, da kommt der liebe Gott immer mal vorbei, wenn er Zeit hat und gerade in der Nahe ist, dann hilft er seiner Schwester, so im Laden hinter der Theke oder fährt auch die Wäsche aus. Und ich war an dem Tag gerade in Dinslaken und hatte frei, zufälligerweise, ich weiß auch nicht, stand so auf der Neustraße auf der Höhe von „Schätzlein“, heute „Extra“, - ja, das weiß ich von meiner Frau - und dann kam jemand auf dem Fahrrad mit Pletschkappe auf, Manchesterhose an,  also wie im Kohlenpott einer von der Schicht kommt, wunderbar, hatte an der Lenkstange noch so eine schwarze Aktenmappe und vorne auf dem Fahrrad einen Riesenwäschekorb, und ich hatte den Eindruck, der ist sehr unsicher oder das Fahrrad ist nicht intakt, ich hab keine Ahnung, er kam jedenfalls so auf mich zugefahren, so halbwegs schwankend und ich stellte mich gleich in Positur. Und es ist nichts passiert, kann ich gleich vorweg nehmen, denn ich habe mich so hingestellt, daß wir beide uns festhalten konnten, sonst hätten wir dann doch die Balance verloren, als er bei mir ankam. Und da hat er gesagt: Das ist aber sehr nett von Ihnen und ich danke Ihnen sehr und ich lade Sie mal in den Himmel ein, denn ich bin nämlich der liebe Gott. Und da hab ich gesagt: Das kann ja jeder sagen! Und da hat er gesagt: Das sagt auch jeder! Ja, hat er wirklich gesagt. 
Und dann hat er aus seiner kleinen Aktenmappe so einen kleinen Flachmann rausgeholt und wollte mir einen Korn anbieten. Nee, nee, das ist ein bisken früh, also danke schön! Kommt noch, kommt noch! sagt er dann, nicht wahr. Und dann sagt er: Ich lad Sie mal in den Himmel ein. Ich schreibe Ihnen, ich laß Sie auch abholen, Sie brauchen gar keine Angst haben, Sie werden gar nichts merken davon. Jedenfalls ist er dann auf sein Fahrrad gesprungen und ist weggefahren. Ich dachte, das ist so ein Unikum, so ein Original, die gibt´s ja in jeder Stadt, nicht wahr.

Aber nach acht Wochen bekam ich tatsächlich aus dem Himmel einen Brief: In der Erinnerung an unser nettes kleines Gespräch in Dinslaken, möchte ich Sie noch einmal schriftlich einladen. Sie sollen mir nämlich nicht jeden Tag, aber so alle zwei, drei Tage auf Abruf ein paar Geschichten unterhaltender Art, hat er wörtlich geschrieben, in Anführungszeichen: „unterhaltender Art“, vorlesen. Und ich hab zurückgeschrieben: ja, ja das wurde ich ganz gerne machen. Ich hatte nur den Wunsch, quasi als Entgelt, er müsse mir dann ab und zu meine Lieben zeigen, die alle schon hier oben im Himmel sind, die würde ich gerne wieder sehen, und wie es ihnen geht und wie sie leben und wo sie wohnen und ob sie sich an mich erinnern, also, das würde mich schon interessieren. Das hat er dann auch gemacht, wunderbar, nicht wahr. 
Und dann hat er mir im Himmel einmal zwischendurch gesagt: Du, wir haben hier oben ein Café Pilatus, da gibt es eine hervorragende Gemüsesuppe, da sitzt der Jesus öfter und spielt Mühle, kannste ja mal hingehen und kannst dich mit ihm über Gott und die Welt unterhalten. Hab ich auch gemacht und ging einfach an seinen Tisch und setzte mich. Und er sagte: Wie geht’s? Ließ dann meist sofort Tee und etwas Gebäck bringen. Und die großen Wunden an seinen Händen waren kaum noch zu sehen. Manchmal rauchte er eine Zigarette und sagte: Ich rauche eigentlich nicht, aber wenn mir die Nichtraucher zu militant werden, dann irritiere ich sie und blase ihnen den Qualm ins Gesicht. Ich bin sonst ja gegen jede Form von Militanz und Fanatismus, und Raucher verteufeln, heißt noch lange nicht: später sterben. Aber da ist ja ein großes Problem, da gibt es Krankheiten, die wir nicht gekannt haben und die uns jetzt natürlich überall vorgeworfen werden, nicht wahr, wir haben die Natur eingeführt, das ist richtig, und sie hat sich dann selbständig gemacht und uns nur die Seelen übrig gelassen, aber über den Leib macht sie sich her, wie es gerade kommt, und wie sie es gerade braucht, und wer ist schuld? Der liebe Gott natürlich, der ist ja immer an allem schuld. So ist es mit den großen Seuchen und mit den großen Kriegen, und jeder weiß es besser, und keiner holt sich mal einen freundschaftlichen Rat, und so taumeln wir- alles wissend und alles kennend - in die Katastrophen hinein. Es gibt Menschen, die sagen, ich soll mich da raus halten, und allmählich kümmern wir uns ja nicht mehr darum, bzw. wir erwarten und wir versprechen uns nichts. Wir machen hier oben unser Schrebergarten-Christentum und kommen ganz gut zurecht damit, wir bereden niemanden und wir agitieren niemanden, wir setzen keinen mehr unter Druck, wir sind ganz einfach freundliche Tote und leben unseren Frieden ohne großes Programm oder- wie heißt das furchtbare \/\/ort bei euch auf der Erde? - ohne große Weltanschauung, leicht, liebenswürdig, ohne irgendeinen irdischen Zwang, ohne Anspruch und Geschmacksdiktatur.

Es gibt zum Beispiel bei uns, sagte er, keine Altersweisheit und keine Jugendsünden, wenn schon Weisheit und Sünden, dann immer und nicht nur am Anfang und am Ende. Wir lieben den Verlierer und wir bitten den Gewinner, dem Verlierer zu helfen, wir sind alle durch den Tod gegangen, und haben eine andere Klangfarbe bekommen, aber das, was wir denken und fühlen, erfahren und wissen, ist gar nicht so neu, das gibt es in allen Religionen. Wir möchten uns nur keine Uniform anziehen, sondern eigentlich unauffällig und umstritten bleiben, das war immer so und das wird auch in den nächsten tausend Jahren so sein.
Umstritten, sagte ich, was heißt denn das? Liebe sagte er, das heißt wirklich Liebe, aber nicht Friede, Freude, Eierkuchen, das schafft kein Mensch und auch kein Gott. Aber Gottes Liebe ist doch allumfassend, sagte ich. Das stimmt schon, sagte er, aber mein Vater hat auch dunkle Stunden, und dann weiß er nicht, an wen er sich wenden soll. Du kannst dich an den lieben Gott wenden oder an mich, sagte er, aber wir haben niemanden, wir haben niemanden. Den Heiligen Geist, sagte ich, Aber der ist ja nicht immer da, sagte er sehr spöttisch, der ist nicht immer da. Jesus von Nazareth sagte, daß der Heilige Geist nicht immer da sei. Das war für mich alles, muß ich Ihnen sagen, völlig neu und aufregend. Und ich war eine Zeit lang gar nicht mehr Herr meiner Sinne.
 


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Wir sehen uns wieder" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Die Zeichnung stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.