Ein Völkermord bleibt ungesühnt

Victor Zaslavsky – „Klassensäuberung“

von Frank Becker
Ein Völkermord bleibt ungesühnt

Wenn es darum geht, Fehler zuzugeben, tut sich niemand leicht. Handelt es sich zudem um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie einen von Staaten und ihren Organisationen begangenen Völkermord (wir wollen hier nicht über juristische Spitzfindigkeiten streiten), einen wie er z.B. 1915 von den Türken an den Armeniern begangen wurde, das Abschlachten der Kulturvölker Mittel- und Südamerikas im Laufe der Kolonisierung unter dem Kreuz durch die Spanier oder der Vernichtungsfeldzug nordamerikanischer Armeen gegen die dortigen Urvölker, beginnt ein ganz anderer Umgang mit solchen fatalen "Fehlern". Regierungen leugnen nicht nur die Schuld, sondern gar die Taten, Geschichtsbücher werden im Sinne der Staatsraison verfälscht und historische Dokumente gar gefälscht oder vernichtet. Beispiele dafür finden sich vor allem im Machtbereich von dogmatischen ausgerichteten Diktaturen - bis auf den Tag.


Der sowjetische Überfall auf Polen 1940

Ein besonders eklatantes Beispiel ist der Massenmord an mehr als 25.000 Menschen, darunter 15.000 polnischen Offizieren, Polizisten, Beamten, Grundbesitzern, Grenzbauern, Geistlichen u.a. bei der Ortschaft Katyn und die Deportation ihrer Familien während der Annektierung Ost-Polens durch die Sowjetunion im Jahr 1940. Die deutschen Nationalsozialisten unter Hitler und die sowjetischen Kommunisten unter Stalin hatten Polen im geheimen Ribbentrop-Molotow-Pakt unter sich aufgeteilt, das Land überfallen und begonnen, die Menschen "umzuerziehen", die den freien Staat Polen in ihren Funktionen bis dahin getragen hatten. Auf deutscher Seite wurde vor allem unerbittlich die jüdische Bevölkerung verfolgt, die Geheimdienste der Sowjetunion sperrten auf "ihrer Seite" jeden ein, der in irgendeiner Weise verdächtig erschien. Die radikalste "Lösung" schien Stalin, seinen Hardlinern vom Politbüro und den Verantwortlichen des NKWD unter Berija und dessen Unterorganisationen die Erschießung ihrer Gefangenen. Sie wurden ohne Anklage, Anhörung, oder die Gelegenheit zur Verteidigung in Abwesenheit auf die bloße Tatsache hin, daß sie polnische Funktionsträger oder Intellektuelle waren, in Geheimverfahren zum Tode verurteilt, umgehend nach Katyn geschafft und von russischen Mordkommandos mit deutscher Munition "professionell" erschossen. Das Verbrechen zu vertuschen wurde schwer, als Deutschland nun Rußland überfiel und in Russisch-Polen einmarschierte.


Fälschung mit Duldung der Briten

Die Sowjets taten nun alles, Beweise zu fälschen und den Deutschen den politisch motivierten Völkermord an den Polen in die ohnehin schmutzigen Schuhe zu schieben. Die Weltöffentlichkeit, vor allem die britische Regierung unter Churchill war daran interessiert, die durch den Krieg zu Bündnispartnern gewordenen Sowjets zu entlasten und übernahm deren Version, obwohl die Fälschung längst erkannt war. Im Unterschied zu den Amerikanern, die nach dem Krieg die Schuld der Sowjets erkannten, blieb England noch bis weit in die 70er Jahre bei der Version, die Deutschen hätten das abscheuliche Verbrechen begangen. Schon während der Nürnberger Prozesse war der sowjetische Versuch gescheitert, die Wehrmacht der Morde von Katyn zu beschuldigen. Das Gericht wies den entsprechenden Versuch der Russen zurück, ließ aber auch keine Klage gegen die Sowjetunion zu, weil es ja um die Anklage gegen die Deutschen ging. Die Sowjetunion ihrerseits nährte bis zu ihrem Zusammenbruch weiter die Lüge von der Schuld der Deutschen und bestritt den beweisbaren Pakt zur Aufteilung Polens. Ja sogar der international anerkannte letzte Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow versuchte bis zuletzt, die bis dahin von allen russischen Führungen geleugneten Original-Dokumente zu unterdrücken, die den Komplott der beiden Diktaturen gegen Polen sowie den Mord-Befehl Stalins und die Schuld der Sowjets belegen. Der russische Historiker und Soziologe Victor Zaslavsky konnte sie während der kurzen Perestroika unter Boris Jelzin dann doch (zum Teil) einsehen. Er konnte Namen von Verantwortlichen ermitteln und benennen. Alle Archive der Geheimdienste und des Politbüros wurden jedoch noch immer nicht geöffnet.


NKWD=KGB=FSB

Mit der Machtergreifung im "neuen Rußland" durch den früheren KGB-Offizier Wladimir Wladimirowitsch Putin, der sich durch Verfassungsänderung und Wahlfälschung soeben zum dritten Mal den Hermelin des russischen Präsidenten um die Schultern legte, flaute der liberale Wind ab, die Katyn-Akten wurden wieder geschlossen und zum Staatsgeheimnis erklärt. Aus dem NKWD war der KGB geworden, der nun unter Putin ebenso lautlos wie unverändert des FSB wurde, um den russischen Unterdrückungs- und Fälschungs-Apparat effektiv weiter zu betreiben. Eine Anklage gegen noch lebende Verantwortliche für Katyn hat es nie gegeben. Ein Völkermord bleibt ungesühnt.

Victor Zaslavsky hat versucht, dieses Verbrechen in seinem Buch "Klassensäuberung - Das Massaker von Katyn" aufzuarbeiten. Er ist dabei so gut es ging in die Tiefe gegangen, zitiert Dokumente und läßt Zeitzeugen zu Wort kommen. Das durchaus verdienstvolle und erschütternde schmale Buch wäre ohne den Nachteil zu vieler Anmerkungen und des zu unzugänglichen dazu gehörenden Apparates, dafür aber eines geschlosseneren Fadens verständlicher geworden. Daß viele Fragen nur angeschnitten wurden und teils offen blieben, mag der fortgesetzten oder besser: wieder aufgenommenen Geheimhaltungspolitik der Russen geschuldet sein. Der Welt sollte das nicht gleichgültig sein.

 
Victor Zaslavsky – „Klassensäuberung“
Das Massaker von Katyn
© 2007 Verlag Klaus Wagenbach, 141 Seiten, Taschenbuch
10,90 €

Weitere Informationen unter:
www.wagenbach.de