Genau wie damals

„Hair“ von Gerome Ragni und James Rado wird im Wuppertaler TiC-Theater brillant wiederbelebt

von Frank Becker
Genau wie damals
 
„Hair“
von Gerome Ragni und James Rado
wird im Wuppertaler TiC-Theater
brillant wiederbelebt
 
Musical-Star Patrick Stanke
führt ideenreich Regie
 
 
Gliddy glub gloopy nibby nabby noopy / la la la - lo lo
sabba sibbi sabba nooby aba naba / lee lee - lo lo
tooby ooby wala / nooby aba naba / early morning singing song
 
 
Musikalische Leitung + Arrangements: Stefan Hüfner- Inszenierung: Patrick Stanke - Choreographie: Dana Großmann – Bühne + Kostüme: Kerstin Faber – Maske: Heike Kehrwisch – Videos: Siegersbusch Filmproduktion – Fotos:
Besetzung: Claude Hooper Bukowski: Jens Dahmen - Woof (und viele andere Rollen): Tobias Unverzagt - Berger: Henning Flüsloh – Hud: Tarik Dafi – Jeannie: Jana Konietzki – Dionne: Karolin Hummerich – Crissy: Natascha Neugebauer – Sheila: Elisabeth Wahle – Mary: Sabine Henke
 
 
Wenn der Mond im siebten Hause steht
 
Die Botschaft des seit 1968 ungebrochen populären Musicals „Hair“, das damals hoffnungsfroh das
Zeitalter des Wassermanns beschwor, ist heute so aktuell wie zu der unseligen Zeit, als die USA 58.168 ihrer Söhne, junge Männer, die keine Chance bekamen ihr Leben zu leben, im ebenso fürchterlichen wie sinnlosen Vietnam-Krieg verheizten. Fast 45.000 von ihnen waren nicht älter als 25, knapp ein Drittel davon war zum Zeitpunkt ihres Todes erst 20 Jahre alt. „Hair“ war ein musikalischer Ausdruck teils naiver Massenproteste
auch der harmlosen Blumenkinder, sowie ernsthafter Auflehnung gegen die allgemeine Wehrpflicht und den Krieg - von Kriegsgegnern und Wehrdienstverweigerern, die für ihre konsequente Haltung Gefängnis riskierten. Das war ein Jahr vor dem Fanal Woodstock. Das damals entstandene Trauma einer großen Nation ist bis heute nicht überwunden, neue Kriegsschauplätze folgten, wieder wurden und werden amerikanische Soldaten auf dem Altar des Kriegsgottes geopfert: Kuwait, Irak, Somalia, Afghanistan. Die Liste wird sich fortsetzen. Der einzige Unterschied zu damals ist: heute gibt es keine Massenprotest-Bewegung, keine Aufmärsche empörter Bürger, keine so effektive Friedens- und Gegenbewegungen wie die friedfertige Flower Power oder die militante Black Power. Auch fehlen charismatische Persönlichkeiten in Politik und Kultur wie u.a. Jimi Hendrix, Malcolm X, John Lennon oder Bob Dylan, Hoffnungsträger wie Dr. Martin Luther King und John F. Kennedy. Die Idee aber bleibt durch Plot und Songs von „Hair“ präsent.
 
Raffiniertes Konzept, erstklassige Besetzung
 
Das TiC-Theater hat es geschafft, aktuell eine Adaption auf die Bühne seiner Spielstätte „Atelier“ zu

"Ich bin ein Schwarzer" - v.l.: Sabine Henke, Henning Flüsloh, Tarik Dafi, Tobias
Unverzagt, Natascha Neugebauer, Jana Konietzki, Jens Dahmen - Foto © M. Mazur
bringen, die Vergleiche nicht zu scheuen braucht, ein präzise recherchiertes, hervorragend ausgestattetes, zudem blendend besetztes Remake. Das vergleichsweise kleine Theater kann dabei mit Pfunden wuchern, die anderen Häusern nicht zur Verfügung stehen: da sind zum einen die semiprofessionellen Laiendarsteller, die mit erstaunlichen, auch sanglichen Talenten, vollem Einsatz und ungeheurer Spielfreude agieren. Es gibt den musikalischen Leiter Stefan Hüfner, der es schafft, große Arrangements und umwerfende Einspielungen aus dem Zylinder zu ziehen. Und es gibt hinter den Kulissen einen ideen- und erfindungsreichen Stab an Ausstattern, Choreographen und Technikern, die bildlich gesprochen aus einer Schachtel Hosenknöpfe den Schatz de Tutenchamun zaubern können. Das ist Vollblut-Theater mit Herz und Hirn. Bei der aktuellen „Hair“-Inszenierung kommt hinzu, daß Intendant Ralf Budde für die Regie einen Vollprofi gewinnen konnte, der einst selbst auf den Brettern des TiC seine ersten Bühnenschritte gemacht hat: Patrick Stanke, längst ein gefragter Star der deutschen Musical-Szene. Gemeinsam mit Stefan Hüfner hat Stanke einiges im Stück nicht nur musikalisch umgestellt, sich dankenswerterweise überwiegend für die deutsche Fassung der Texte entschieden und den Plot mutig gestrafft.
 
Alles wie damals
 
Stirnbänder, Batik, Ravi Shankar, Grass, Henna, zerrissene Jeans mit Aufnähern, Gypsy-Look, gelebte Blasphemie, Fransen-Westen, psychedelische Farben, Blumen, freie Liebe, runde Sonnenbrillen, Afro-Frisuren, Peace – es ist alles drin in dieser Inszenierung. Man sah es deutlich: Kerstin Faber hat in den Ausstattungsdetails geschwelgt und den Punkt getroffen. Eine hochmotivierte Truppe lieferte in zweieinviertel Stunden (Zugaben eingeschlossen) eine kompakte Version des in seiner Originalfassung gut und gerne dreieinhalb Stunden währenden Dramas um den US-Rekruten Claude Hooper Bukowski (Jens Dahmen), der auf seinem Weg zur Musterung für die US Army bei New Yorker Hippies im Central Park hängenbleibt, den Duft und die Wirkung von Marihuana, Protest gegen Gesellschaft und das Establishment und den Traum vom freien Leben – die Sexualität jenseits bürgerlicher Moral eingeschlossen – kennenlernt. Das Grüppchen Hippies mit ihrem jugendlichen Anführer und Meinungsmacher Berger (Henning Flüsloh), das seinerseits wieder nach Mustern einer eigenen Moral lebt, kann ihn nicht halten, er folgt dem Ruf der Fahne und rückt ein. Als bei einem Besuch der Freunde in seinem Ausbildungs-Camp Berger für einen Tag in Claudes Uniform schlüpft, um ihm einen letzten freien Tag zu schenken, wird die Einheit samt Berger al. Bukowski nach Vietnam verlegt, und Berger muß den bitteren Weg der jungen GIs gehen, der unweigerlich mit dem Tod im Kampf enden wird.
 
Aus einem Minimum das Optimum gemacht
 
Natürlich wird das im Grunde schmale Buch von den fast drei Dutzend Songs, darunter die längst

Henning Flüsloh als Berger - Foto © Martin Mazur
Standards gewordenen „Aquarius“, „Donna“, Manchester, England“, „I´m Black“, „I Got No…“, „Hair“, „Where Do I Go?“, „Black Boys“, „Hare Krishna“, „Good Morning Starshine“ und „Let The Sunshine In“ getragen – und hier kommt es einzig und allein auf die Qualitäten der Mitwirkenden an. Patrick Stanke hat es geschafft, mit einem Minimum an Personalaufwand, jedoch mit hervorragenden Darstellern die Story und die Songs mustergültig umzusetzen.
Die brillante Choreographie von Dana Großmann spielt als vermittelndes Medium dabei eine entscheidende Rolle. Raffiniert für die Inszenierung gedrehte Videoeinspielungen der Siegersbusch Filmproduktion, u.a. LSD-lastiger Psychedelic-Farbspiele, der Bankettszene und – witzig – des hinter dem Bus der Hippies herlaufenden Woof (Tobias Unverzagt, der neben dem „Woof“ in vielen weiteren kleinen Rollen glänzte, bekam dafür einen Extra-Applaus) und historische Filmdokumente wie Bilder des Central Park, vom US-Army-Drill und dem in Martin Luther Kings Rede „I have a dream“ (da lief einem schon eine Gänsehaut über den Rücken) gipfelnden Friedensmarsch auf Washington ersetzen dabei aufwendige Kulissen und  Massenszenen. Aus einem Minimum wurde so ein Optimum gemacht.  Chapeau!
 
Unter die Haut
 
Mit Jana Konietzki, die empfindsam und zerbrechlich die Rolle der scheinbar sexuell haltlosen, in

Berührend: Jana Konietzki als Jeannie - Foto © Martin Mazur
Wahrheit aber Halt suchenden Jeannie verkörpert, hat Stanke die Idealbesetzung gefunden. Ihre Interpretation von „Easy to Be Hard / Nein sagt sich so leicht“ (im Original Sheilas Song und Schicksal) ging unter die Haut und unmittelbar ans Herz. Von der scheinliberalen jungen Gesellschaft im Moment der Not mit ihrer Schwangerschaft alleingelassen, steht sie bei diesem Song als einsamer Solitär im Rampenlicht. Jens Dahmen gelingt der etwas verklemmte, wankelmütig werdende Claude glaubhaft, mit „Manchester, England“ hat er einen guten Einstieg. Sprühend charismatisch der blutjunge Henning Flüsloh als Berger, ein hübscher junger Mann und leichtfertiger Womanizer, der die Revolution als seinen privaten Spaß betrachtet - und ein bitteres Ende findet. Flüsloh hat mit dem Titelsong seinen großen Auftritt. Die weiteren Solo- und Ensemblenummern (Elisabeth Wahle, Sabine Henke, Natascha Neugebauer, Karolin Hummerich, Tarik Dafi) reißen bis zum großen Finale mit "Let The Sunshine In" durchweg mit, sind vielen noch im Ohr – man bedenke, die Generation, für die „Hair“ damals gemacht wurde und die zahlreich anwesend war, ist jetzt zwischen 60 und 70 Jahre alt – und  sie wurden spürbar auch von den wesentlich jüngeren Besuchern mit Begeisterung aufgenommen. Das Konzept ging auf, die Inszenierung hat Biß, Humor und Überzeugungskraft. Wir empfehlen, sich unbedingt Karten zu sichern. Die nächste Vorstellung gibt es heute Abend.
 
Let the sunshine
Let the sunshine in
The sunshine in

 Weitere Informationen: www.tic-theater.de  -  Tel. 0202-472211