Moskau - Petuški

Szenische Lesung eines grandiosen Säufer-Poems

von Frank Becker
Wie Turgeniew!
 
Wenitschka steuert den Moskauer Kursker Bahnhof an. An diesem Bahnhof führt kein Weg vorbei, zumal, wenn man nach Petuški und selbst wenn man zum Kreml will. Es ist jetzt die schlimmste Zeit für ihn und die anderen gewaltigen Trinker, zwischen Schließung der Geschäfte und der Morgen­dämmerung - es gibt nichts! Nicht einmal das Bahnhofsrestaurant will den gestern übrig gebliebenen Jerez herausrücken… Doch dann endlich der Schnapsladen: mit der Gewißheit einer langen Bahnfahrt wird Stoff für die Reise gebunkert  - eine ungeheure Flaschenbatterie beult die Taschen: Kubanskaja Vodka, Rossisijskaja, Rosé-Verschnitt (zu 1 Rubel 37).
 
Aberwitzige Gespräche, Diskussionen, literarische Foren entspinnen sich im Laufe der Bahnfahrt, mit Halt in Hammer und Sichel, Cuchlinka, Reutovo, Zeleznodoroznaja…, zwischen Philosophieren und Saufen: „Wir brausen durch Kurskow ohne Aufenthalt - darauf sollte ich noch einen trin­ken!“ Alle halten mit, setzen wie Wenitschka die Flaschen an den Hals, trinken ohne Maß und reden. Reden über Suff, Weiber und Schnurrbärte, über Goethe und Schiller, Gorki, Turgenjew und Puschkin. „Wenn die Angst im Herzen wächst, muß man sie betäuben. Und um sie zu betäuben, muß man etwas trinken!“ Das tun sie konsequent und in beängstigenden Mengen: ein Gläschen Subrowka, ein paar Krügelchen Shigulin-Bier, Kubanskaja, Kräuterschnaps und Portwein, Roten, Rossijskaja, Zitronenschnaps und alles was Dröhnung hat. Und schnell noch ein Butterbrot und einen Schluck, um den Brechreiz zu unterdrücken.
 
Der Rhythmus von Schienen und Schwellen mischt sich mit dem Vodka zu einem wilden Tanz - Bruderschaft! Ist das Ziel er­reicht? Eine Revolution wird gemacht, der Kontrolleur erliegt dem Suff wie seine Fahrgäste (einen Fahrschein hat ohnehin niemand) – der Zug wird zum Mikrokosmos mit wirbelden Sternen. Wohin fahren wir? Sibirien? „Nein, in Sibirien kann man nicht leben. In Sibirien lebt überhaupt keiner, nur Neger. (...) Lediglich einmal im Jahr schickt man ihnen aus Shitomir bestickte Handtücher, an denen sich die Neger dann aufhängen...“. Auf Petuški zu werden die Rei­senden zu irrwitzigen Traumbildern nahe dem Wahnsinn und die verrückte Sauftour versinkt alptraumhaft in einem rasenden Wirbel von Visionen, einer kryptischen Apokalypse. Die Pro­tagonisten, unser Wenitschka voran, fallen aus dem Leben, haben die Welt verloren... Nichts hat mehr Bestand oder Gültigkeit, nicht das Ziel, nicht mal die Hoffnung.
 
Wenedikt Jerofejews Buch, längst ein Klassiker der Trinkerliteratur und  Säufer- Poesie und in einer Reihe mit Hermann Harry Schmitz, Daniil Charms, Bruno Schulz und Eugen Egner zu sehen, ist ein Stück bis zum derilierenden Ende voll grotesker Klugheit steckende großartige Literatur. Andreas Petri, Artur Andreasjan, Lutz Wessel und Friederike Pöschel haben gestern Abend das Wagnis unternommen, dieses Säufer-Poem am heißesten Abend des Jahres, nüchtern einem weitgehend alkoholfreien Publikum samt musikalischen Zwischenspielen im Kleinen Haus des Wuppertaler Schauspiels als szenische Lesung in der deutschen Übersetzung von Peter Urban vorzutragen. Das tun sie heute Abend noch einmal. Sollte man sich nicht entgehen lassen – obwohl: ein paar hundert Gramm Kubanskaja, Rossisijskaja und Shigulin könnte man sich dazu schon gut denken. Und wenn sie schon mal da sind, ein Tip: schreiben Sie die Rezepte auf. 

Weitere Informationen: www.wuppertaler-buehnen.de