Das Leseverhalten des Ostwestfalen

Grundsatzfragen

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Das Leseverhalten des Ostwestfalen
und Überlegungen zur Würde eines Amtes

   Regierungspräsident Andreas Wiebe eröffnete in Löhne die bezirksweiten Aktionswochen der öffentlichen Bibliotheken in Ostwestfalen-Lippe.
„Jeder Finne geht zwölfmal im Jahr in die Bibliothek, der Ostwestfale im Durchschnitt nur einmal“, betonte Schirmherr Andreas Wiebe den ernsten Hintergrund der Aktion.   
   Anmerken möchte ich aber, daß der Ostwestfale zwar nur einmal im Jahr in die Bibliothek geht, sich dann aber zwölf Bücher ausleiht. Der Ostwestfale nützt die Zeit, die der Finne beim Ausleihen der Bücher verplempert, schon zum Lesen. Außerdem kommt es auch immer noch darauf an, was man liest. Ich zum Beispiel lese sehr viel, aber meistens nur Quatsch. Zum Beispiel hatte ich gerne mal gelesen, wie oft der Regierungspräsident sich in seiner Bibliothek sehen läßt, und welche Finnen er kennt, die sich nur zwölfmal im Jahr ein Buch ausleihen. Wir sollten die Ergebnisse der Pisa-Studie nicht den Kindern anlasten. Nicht Unwissenheit ist das ernste Problem, sondern fehlende Herzensgüte, fehlende Geduld, fehlender Humor und natürlich fehlende Vorbilder. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob dieser aalglatte Repräsentationshaufen der machttragenden Politiker geeignet ist, unsere Gesellschaft in irgendeiner Weise moralisch zu vertreten. Das ganze Drumherum der Bundespräsidentenwahl zeigt doch wieder nur, daß die Würde eines Amtes wieder auf den abgewälzt werden soll, der im tatsächlichen politischen Alltag so gut wie keine Machtbefugnisse hat und deshalb weniger verführbar und weniger angreifbar ist. Dann könnte uns ein Kind repräsentieren, und der Wind würde Außenminister sein. Als Bundeskanzlerin käme eine mehrfache Mutter in Frage, der Arbeitsminister wäre selbst arbeitslos und der Landwirtschaftsminister wäre ein Schwein. Die Gesellschaft muß sich langsam entscheiden, ob sie reich oder glücklich werden will. Das Glück braucht Raum und Zeit. Man muß bereit sein, Türen zu öffnen und sich hinzugeben. Der andere Mensch sollte dem Menschen eine Herzensangelegenheit sein, sogar, wenn er sich durch Fehler hervortat.   



© Erwin Grosche - aus: Die Wirklichkeit und andere Übertreibungen, Ardey Berlag 2005