Und die Nordwand schweigt...

von Hanns Dieter Hüsch

© Jürgen Pankarz
Und die Nordwand schweigt...

Ich war neulich wieder mal an der Eiger-Nordwand! Also nicht direkt an der dunkelgrauen Wand! Die geht ja ganz steil nach oben. Wie so eine große Schiefertafel, auf der stehen könnte: »Noli me tangere«! - »Wolle mich nicht berühren!« Das ist eine ganz gefährliche Wand! Aber ich bin schon öfter von Grindelwald aus ... - Kennen Sie Grindelwald? - In der Nähe liegt das Finsterahorn, mein Lieblingsberg! Ich war noch nicht  drauf! Wie gesagt, von Grindelwald aus bin ich neulich an der Eiger-Nordwand vorbeispaziert. Dort habe ich vor Jahren einmal gesehen - mit dem Fernglas -, wie da einer, es war ein Japaner, raufgeklettert ist. Also einfach so ganz steil hoch klebte der an der Wand fest. Ich sage Ihnen, Wahnsinn! Das fiel mir wieder ein - das sind über zwanzig Jahre her -, als ich neulich wieder einmal von Grindelwald aus die große dunkle Eiger-Nordwand sah. Und da habe ich so gedacht: Was mag wohl aus dem Mann, dem Japaner, geworden sein? Vielleicht ist der inzwischen abgestürzt, oder er lebt jetzt irgendwo in Japan, ist Dentist, hat einen Sohn und eine Geisha und denkt in Japan an die Eiger-Nordwand! Und ich bin in Griechenland und denke an ihn. Merkwürdig, wie das so geht! Und wie alles so zur gleichen Zeit passiert, wenn man so einen Querschnitt durch die ganze Welt macht! Was alles gleichzeitig vonstatten geht! Da trinkt einer in Sydney ein Bier, und hier findet ein Fußballspiel statt. Oder in der Sahelzone ver- hungern Kinder, und zur gleichen Zeit finden bei uns große Frühlingsfeste statt! Und irgendwo gibts ein Erdbeben, und die Uhren gehen alle durcheinander, aber doch alle gleich! Denn die Ereignisse haben keine Zeit! Hier eilt einer ins Sinfoniekonzert, dort kommt einer auf den elektrischen Stuhl! Wie viele Geschichten rollen Jahr für Jahr ab, gleichzeitig ab! Der Japaner von der Eiger-Nordwand lebt vielleicht schon gar nicht mehr, aber sein Sohn bezwingt den Nanga Parbat. Während ich an seinen Vater denke, an Grindelwald und das Finsterahorn, werden Elefanten ihres Elfenbeins beraubt. Und da wird geschmust und gehandelt, gestritten und geschlagen, operiert und gestorben! Das hält man gar nicht aus, wenn man sich das mal alles so  richtig vergegenwärtigt. Wenn man aus dem Urlaub kommt, denkt man doch noch tagelang: Jetzt, um diese Zeit, gingen wir immer in unsere Kneipe! Und: Was wird da jetzt wohl los sein? Was sich alles zur gleichen Zeit auf unserem Erdenrund abspielt: Da wird ein Kind geboren, dort wird ein Krieg begonnen, und ich schreibe hier und schreibe und schreibe, und die Eiger-Nordwand schweigt!


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Es kommt immer was dazwischen" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Die Zeichnung stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.