Polydor - Die Chronik einer deutschen Schallplattenmarke

Bettina Greve: „Sternenhimmel“ - mit Vergnügen durchgeschmökert

von Frank Becker

Polydor
 
Die liebevolle Chronik einer legendären
deutschen Schallplatten-Marke
 
Als irgendwann in den späten 60er Jahren das geschwungene Polydor-Band mit Sternchen und Schallplatte auf orangefarbenem Grund (bei den alten Schellacks mit u.a. Bully Buhlan, Rita Paul und Bruce Low noch rot/gold) gegen das Signet mit nüchternem Schriftzug auf rotem Grund ausgetauscht wurde, war das für Leute, die mit dem „alten“ Polydor aufgewachsen waren, ein Kulturschock. Der Aufschwung der 50er Jahre, die Milch- und Plattenbars, Wurlitzer-, Rock-Ola- und Evans-Musicboxen, Schlagerfilme, Starparaden und Single-Alben, sowie der ironische Heimat-Kitsch von Friedel Hensch und den Cyprys („Das alte Försterhaus“), die auch den Mond von Wanne-Eickel unter dem Sternenhimmel aufgegen ließen, waren mit diesem Markenzeichen im wieder erwachenden, selbstbewußten Deutschland weit enger verbunden als andere mindestens ebenso große Labels.

„Tiger“ Peter Kraus, Ted Herolds „Moonlight“ (Moohoohoonlight, die Nacht ist schön, huuhuuhuuhuu...), Freddy Quinns brennend heißer, heimatloser Wüstensand und Caterina die Große (Valente), die übrigens im Januar 2006 ihren 75. Geburtstag feiern kann, sind so untrennbar mit diesem Bild verbunden wie Helmut Zacharias´ schluchzende Geigen, Illo Schieder, die deftige Trude Herr, die Seemannsbraut Lolita und Bert Kaempfert. Renate Kerns metallische Stimme gab einen besonderen Akzent. „Polydor“ wurde synonym für den deutschen Schlager und seinen Blick über die Grenzen der Republik schlechthin. Nachdem Rudi Schuricke „Florentinische Nächte“ und die „Capri-Fischer“ besungen, René Carol nach Havanna und in italienische Weinlokale gelockt, Hawaii, der Wilde Westen und die christliche Seefahrt („Jim, Johhny und Jonas“) in den Fokus der deutschen Schlagermacher gerückt waren, lockten auch Protagonisten mit echt südlichen Wurzeln. Der sanfte Teddy Reno, sexy Mina (schon wieder „Heißer Sand“) - der in der Tat heißeste Italien-Import mit schlaflose- Nächte-Garantie, Ivo Robic aus dem sozialistischen Jugoslawien, das als neues Urlaubs-Paradies entdeckt wurde und Temperamentsbündel Rita Pavone präsentierten den Traum vom sonnigen Süden.

Dann Schlager-kalauerten Gus Backus, Bill Ramsey, Billy Mo und Mal Sondock als US-Importe, schmalzten der wohl unbegabteste und peinlichste Schlagersänger und Schauspieler aller deutsch- österreichischen Zeiten Peter Alexander und der hingegen sehr begabte und sympathische Roy Black und gaben Weltstars unvergessene Gastspiele: Louis „Satchmo“ Armstrong, die jaulenden Bee Gees, James „Sex Machine“ Brown, die als Busen-Wunder propagierte und als Schauspielerin unterschätzte Jane Mansfield und gar Tony Sheridan und die jungen Beatles. Tolle Zeiten. Barry Ryan schluchzte 1969 „Eloise“ hinterher wie ich Ute Biesterfeld - und Bata Illic, Chris Roberts und Ireen Sheer sind dem verfallenden Geschmack geschuldet, ebenso wie viel später Kastrat Robin Gibb, Chris Roberts und (schudder!!) Tommy Steiner. Sportler wie Hürdensprinter Martin Lauer, Segler Willy Kuhweide, Ski-As Toni Sailer, Kicker Franz Beckenbauer und Jahrhundert-Torwart Sepp Maier (genial als Karl Valentin- Epigone) dilettierten hemmungslos. Aber wie hat meine Oma immer gesagt: „Gäschmacksaache...“. Immerhin: Udo Lindenberg hat seinen „Sonderzug nach Pankow“ bei Polydor aufs Gleis gesetzt und die schwedischen Überflieger Spotnicks und ABBA sahen sich dort bestens aufgehoben wie auch der Original-Soundtrack von „Hair“ und die Bands „The Who“, „Cream“ und Jimi Hendrix - noch Fragen?

Polydor-Pressechefin Bettina Greve (ja: Polydor gibt es immer noch!) hat mit viel Liebe und ungeheurem Fleiß recherchiert, in Archiven das Unterste zuoberst gekehrt und mit Hilfe von Bear Family Records und vielen anderen Quellen die komplizierte Geschichte des Labels Polydor von den 20er Jahren bis 2001 aufgezeichnet. Ihr Buch „Sternenhimmel“ ist eine Prezioise, ein Muß für Schallplattenfreunde und Schlagerfans, aber auch für jeden, der sich mit der Kulturgeschichte Deutschlands, vor allem nach 1945 beschäftigt. Mit herrlichem Bildmaterial reich und üppig ausgestattet, ist „Sternenhimmel“ auch fünf Jahre nach seinem Erscheinen das ultimative Werk zum Thema. Gehört unbedingt in jede gut sortierte Musik-Bibliothek!
 
Bettina Greve – „Sternenhimmel – Polydor“
Die Chronik einer deutschen Schallplattenmarke
© 2001 hannibal Verlag, 263 Seiten, gebunden (gepolsterter Luxus- Einband), Großformat 28,5 x 21 cm, mit zahllosen Abbildungen und erläuternden Anhängen
40,- Euro
Weitere Informationen unter: www.hannibal-verlag.de - www.polydor.de

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