Faschistischer „superuomo“?

Eckhard Leuschner - "Figura umana"

von Rainer K. Wick

Fausto Melotti, Costante Uomo (Figurenstele für die
Triennale di Milano 1936)  - Leuschner S. 216
„Figura umana“

Italiens Künstler zwischen 1919 und 1939
auf der Suche nach dem Bild des „Idealmenschen“

Bemerkungen zu einem Buch von Eckhard Leuschner
Von Rainer K. Wick
 
 
Faschistischer „superuomo“?
 
Die Suche nach dem „Idealmenschen“ zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Bei Nietzsche fand sie in Gestalt des „Übermenschen“ ihre prominenteste Ausformung. Faschisten in Italien und Nationalsozialisten in Deutschland knüpften an diese Übermensch-Konzeption an und deformierten sie zur Ideologie des (arischen) Herrenmenschen. Ihre kanonische Ausformung erfuhr diese Ideologie in der „Kunst“ des sog. Dritten Reichs in den monumentalen, im Laufe der Jahre mehr und mehr jeder Maßstäblichkeit entsagenden, pathetisch übersteigerten und einem hohlen Neoklassizismus huldigenden Figuren Arno Brekers – materialisierter Ausdruck der Rassenideologie der Nazis und ihres heroischen Körperideals (siehe die Rezension der Breker-Biografie von Jürgen Trimborn, Musenblätter vom 25.06.12). Früher noch als im Hitler-Faschismus findet sich derartiges aber auch im faschistischen Italien. Erwähnt seien nur die rund sechzig Kolossalstatuen muskulöser, kraftstrotzender Sportler im Stadio dei Marmi (Marmorstadion) auf dem Gelände des heutigen Foro Italico in Rom, das zu Zeiten des „Duce“ Foro Mussolini hieß. Hier waren es Romeo Gregori, Bernardo Morescalchi und andere, die vorformulierten, was in ähnlicher Form im Nazi-Deutschland bald zur verbindlichen ästhetischen Norm werden sollte. Und eine Parallele zum Größenwahn, wie er sich in den Planungen des Dritten Reichs manifestierte, war in Italien das schon 1934 von Aroldo Bellini in Angriff genommene Projekt eines 100 Meter hohen Standbildes Mussolinis, das in Rom errichtet werden und den Titel „Der Faschismus“ tragen sollte.
Entgegen der Erwartung, daß dies alles in einer Publikation über „Normkonzepte der Menschendarstellung in der italienischen Kunst 1919-1939“ ausführlich zur Sprache kommt, konzentriert sich das von Eckhard Leuschner herausgegebene Buch „Figura umana“ nicht auf das, was oft simplifizierend für die offizielle, an klassischen Vorbildern orientierte „Staatsästhetik“ im faschistischen Italien gehalten wird. Vielmehr spiegeln die Einzelbeiträge, die zum Teil auf eine Tagung am Kunsthistorischen Institut in Florenz im Jahr 2008 zurückgehen, einen Pluralismus und eine Offenheit für ästhetische Konzepte der Moderne, wie sie in Nazi-Deutschland unter dem Verdikt der „entarteten Kunst“ unvorstellbar waren. In einem künstlerischen Klima, in dem der Spagat zwischen Tradition und Moderne möglich sein sollte – „una grande arte che può essere traditionalista e al tempo stesso moderna“ („eine große Kunst, traditionell und gleichzeitig modern“) – manifestierte sich die Idee des „superuomo“, des Supermenschen, in erster Linie in der Gestalt des Diktators selbst und im Körperkult Mussolinis (siehe dazu die Beiträge von Franziska Meier und Giuliana Pieri).
 
„Metrologische Obsession“
 
Wie vielfältig und differenziert das Bild des Menschen in der Kunst, im Grafikdesign, im Film und in der Literatur der Zwischenkriegszeit gewesen ist, verdeutlichen zwölf Einzelbeiträge deutscher und italienischer Autorinnen und Autoren. Eckhard Leuschner, Initiator der Florentiner Tagung und Herausgeber des Buches, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Erfurt, gibt der Publikation gewissermaßen den Rahmen, indem er in einem ersten Aufsatz „Maßkonzepte in der italienischen Kunst von der Pittura Metafisica bis zur Scuola Romana“ erörtert und sich in seinem abschließenden Beitrag mit dem Thema „Mensch“ bei Schlemmer, Le Corbusier, Melotti und der italienischen Architektengruppe B.B.P.R. auseinandersetzt. Richtet er in seiner einführenden Analyse das Augenmerk zunächst auf die zeittypische Mess- und Mathematikbegeisterung, auf die „metrologische Obsession“ prominenter italienischer Künstler wie Severini, de Chirico, Carrà, Sironi und Prampolini und andere, so erweitert er zum Schluß des Buches die Perspektive, indem er das Ringen um die Darstellung der menschlichen Figur in der Kunst Italiens der 1920/30er Jahre in ein internationales Bezugssystem einbettet. Dabei konzentriert er sich exemplarisch auf das Bauhaus, speziell auf Oskar Schlemmers Unterricht „Der Mensch“, und auf Le Corbusier und dessen „Modulor“. Dreh- und Angelpunkt seiner elaborierten, Positionen der damaligen Anthropologie einbeziehenden Untersuchung sind die zwölf identischen, überlebensgroßen menschlichen Gipsfiguren des Bildhauers Fausto Melotti, die heute als „Costante Uomo“ bekannt sind und 1936 auf der Triennale von Mailand in der „Mostra dell’Abitazione“ Aufstellung gefunden hatten (siehe die Abbildung auf dem Buchumschlag). Diese Figuren mit gesichtslosen, eiförmigen Köpfen, armlos, ohne Füße und Geschlechtsmerkmale, lediglich mit dem Negativabdruck einer menschlichen Hand im Bereich des Thorax, markieren in ihrem Abstraktionsgrad einen äußersten Gegensatz zum neoklassizistischen Figurenideal muskulöser Athleten, wie sie sich im Foro Mussolini präsentieren. Zugleich signalisieren sie die im faschistischen Italien lange Zeit mögliche Koexistenz unterschiedlicher stilistischer Haltungen zwischen Tradition und Moderne, wie sie gleichzeitig im Nazi-Deutschland undenkbar war. Leuschner zeigt, daß aber auch Melottis „moderne“ Figuren in ihrer vollkommenen Anonymität im propagandistischen Kontext des Faschismus zu verorten sind, deutet sich in ihnen doch im Sinne dessen totalitärer Ideologie das Aufgehen des Individuellen im Kollektiven an.
 
Bemerkenswerter Pluralismus
 
Nach den großen künstlerischen Umbrüchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Expressionismus, Kubismus, Futurismus, die den normativen Quaderbau der Renaissance endgültig einstürzen ließen – und den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs gab es in Italien (und anderswo) deutliche Tendenzen einer dezidierten Rückkehr zur Ordnung („Ritorno all’ordine“), die sich u.a. in einer Wiederbelebung des Interesses an einem durch Maß und Zahl regulierten, kanonischen Menschenbild manifestierte. Und doch gab es für die Darstellung des Menschen in der Kunst Italiens zwischen 1919 und 1939 nicht eine einheitliche und alles nivellierende Norm. Zu beobachten ist vielmehr ein beachtlicher Pluralismus, der von de Chiricos einflussreicher Kunstfigur des Manichino, einem „Mannequin“ als Gliederpuppe, über die ausgesprochen akademischen Aktdarstellungen von Giovanni Colacicchi (Susanna Ragionieri) bis hin zu den „Maschinenmenschen“ reicht, wie sie sich im Zweiten Futurismus der Nachkriegszeit etwa bei Ivo Pannaggi ausformten (Alessandra Scappini).
Gino Severini, eine der zentralen Figuren der italienischen Kunst im 20. Jahrhundert, der schon während des Ersten Weltkriegs vom Futuristen zum Neoklassizisten konvertierte, sind in Leuschners Anthologie zwei Beiträge gewidmet: eine Analyse aus der Feder des Severini-Spezialisten Piero Pacini, der mit Hilfe grafischer Schemata die rationale, geometrische Bildstruktur einiger der Kompositionen des Künstlers im Bemühen um eine Wiederentdeckung der „göttlichen Proportionen“ und der Wiedergewinnung einer „neuen Klassizität („Nouva classicità“) aufdeckt, und die Studie von Christoph Wagner, der Severini und das Bauhaus – unter besonderer Berücksichtigung Klees und Ittens – mit Blick auf deren Suche nach einem „Neuen Pythagoras“ miteinander in Beziehung setzt und damit jene internationale Perspektive bestätigt, die, wie erwähnt, auch Leuschner ein besonderes Anliegen ist.
Das vorliegende Buch leistet einen maßgeblichen Beitrag zur Differenzierung des vielfach immer noch zu monolithischen Bildes, das sich die Kunstwissenschaft vom faschistischen Italien macht. Insofern sei Leuschners „Figura umana“ jedem am Thema Interessierten nachdrücklich empfohlen. Daß von den zwölf Beiträgen fünf in italienischer und zwei in englischer Sprache publiziert wurden, entspricht bei einem Tagungsband, an dem internationale Wissenschaftler beteiligt sind, der üblichen Praxis. Gleichwohl ist zu bedauern, daß durch das Fehlen einer deutschen Übersetzung Lesern, die des Italienischen unkundig sind, die Lektüre eines nicht unwesentlichen Teils dieses Werkes verschlossen bleibt.
 
Eckhard Leuschner (Hg.): Figura umana. Normkonzepte der Menschendarstellung in der italienischen Kunst 1919-1939
© 2012, Michael Imhof Verlag, 248 S., gebunden, 303 SW-Abbildungen, Texte deutsch, italienisch, englisch -
ISBN 978-3-86568-777-7
29,95 €
 
Weitere Informationen: www.imhof-verlag.de