Die Sendung des Dichters
Ein friedlicher Ort ähnlich Shangri La war für Hans Fernal das wirklich vorhandene Tal mit dem Schieferhaus, durch das die Wupper inmitten bewaldeter Berge und buckeliger Wiesen nach Westen in Richtung Solingen fließt, und danach entspannt ausklingend, fast unauffällig, zum Rhein. Hier wohnte der Dichter Windgassen, erst vor kurzen von der Finanzverwaltung als Abteilungsleiter in das hiesige Hauptzollamt versetzt, nur selten dichtend, dennoch von Fernals Freund Prees scherzhaft zum Dichter Windgassen ernannt. Im Kriege war er in Fernals Gefangenen-Camp in Ägypten Küchenchef gewesen. Im Wüstencamp hatte er in der nur von einem Segeltuch überspannten Freiluftküche vor dem riesigen Kessel gestanden und mit der mächtigen Kelle im Eintopf herumgerührt. An der Art des Herumrührens erkannten die Beobachter unter den Gefangenen, die immer in der Nähe der Lagerküche herumlungerten, die Konsistenz der Brühe, eilten davon und berichteten darüber. Es war ein Thema, das jeden interessierte. Niemand verhungerte damals im Lager, aber alle hatten immer etwas Hunger. Fernal hatte daheim Windgassens Welt kennengelernt und sich verzaubern lassen, so wie Windgassen selbst ständig von seiner Welt verzaubert war wie einst der umtriebige Ritter Don Quixote. Für ihn strahlte seine Frau Margot unendliche Mütterlichkeit, Anhänglichkeit und Bewunderung aus und war ihm bis in den Tod verbunden. Nie würde er diesen einmaligen Menschen verlassen. Fernal fand, daß Fritz Windgassen ein Lebenskünstler war. Manchmal machte Fernal sich Gedanken über das strapaziöse Liebesleben von Windgassen im Kleinstwagen, das nach seiner Meinung zu Schäden am Skelett führen konnte. Mit dem Jungen habe man dennoch das große Los gezogen, meinte Windgassen. Nie würden er und seine Frau allein und einsam sein. Der Junge werde immer zu ihnen halten. Die Möglichkeit, daß er einmal ausziehen könnte, gab es nicht. Hinter Windgassens Haus stiegen die bewaldeten Berge steil an. Manchmal war Fernal irritiert von Windgassens weitreichenden Phantasien, aber alles war vergessen, wenn er die Freude über seinen Besuch in dessen Augen sah, wenn sie plaudernd den Serpentinenweg zu diesen steilen Anhöhen hinaufstiegen und Windgassen von seinen Abenteuern mit Lotti, Irmchen und Beate erzählte, von mehlverstaubten Umarmungen im Hinterzimmer einer Bäckerei, und alle diese hitzigen Begegnungen wieder unterbrochen vom Dienst beim Zoll, vom nächtlichen Einpacken von Gesundheitsextrakten in Flaschen im Versandgeschäft, das seine Tochter betrieb, begleitet von Lobreden auf seine treue Frau Margot, mit der es „immer noch am schönsten“ ginge. Manchmal half er seiner Tochter bei Zeitmangel sogar nachts in ihrem Geschäft. Schlaf gab es eigentlich nur in den Pausen seiner Aktivitäten. Dabei spürte er zunehmend Herzschmerzen, die er am wirksamsten mit einigen Schlucken aus der Schnapsflasche zu bekämpfen behauptete. Ein Mann, der lebte wie eine lodernde Flamme, ein Mann, der seine Freunde liebte. Das machte alles gut, fand Fernal. Und Windgassen hatte längst die Erfahrung gemacht, daß einem Manne nur von Männern bestätigt werden kann, daß er etwas wert ist. Manchmal setzten die beiden Freunde sich eine Viertelstunde auf einen Stapel Eisenbahnschwellen auf einem stillgelegten Bahnhof in der Nähe. Die Nachmittagssonne strahlte mild, die bescheidenen Pflänzchen und Halme zu ihren Füßen neigten sich geschwätzig hin und her und einander zu, das Dach des verfallenen Gebäudes glänzte schwarz, und wenn man weg- und wieder hinblickte, war es immer noch dort und bewies Beständigkeit, und alles ruhte friedlich, so wie es Fernal es sich in dieser Zeit für sich besonders heftig wünschte; hier spürte er niemals Langeweile, denn alles um ihn herum strahlte Erwartung aus wie an einem ersten Ferientag. Fernal begleitete den Freund zurück zu dessen Frau Margot, die ihnen so entgegenlächelte, so als ob die beiden Großes und Verdienstvolles vollbracht hätten. Frau Margot hörte von diesem Augenblick an nicht auf mit Fragen und Vorschlägen, die alle das Wohlbefinden und Wohlergehen ihres Mannes betrafen. Freilich nahm sie dabei auch ständig seine Aufmerksamkeit in Anspruch, was ihm sicher längst nicht mehr auffiel. Es war der unsichtbare Gewinn, der ihr zufiel. Nach einem der letzten Besuche bei Windgassen fiel sie ihm kurz vor dem Einschlafen ein, die Frau Margot des Dichters und Zollbeamten. Daß Menschen so viel Raum in einem Leben einnehmen konnten, Frau Margot also in dem von Windgassen! Mußte er, Fernal, bei dieser Art von Bedrohung nicht heilfroh sein, allein zu leben? Natürlich kannte er Stunden heißer Begierde, aber wenn die nicht vorhanden oder vorbei war, was tun mit diesem Menschen, mit diesem Körper, der ihm da so hartnäckig Raum wegnahm? Vielleicht wurde man abgestoßen von dem fremden Kleider- und Körpergeruch einer Frau. Manchmal rochen die Kleider nach Sommerhitze, Staub, Schweiß. Mochte man überhaupt jemand Fremdes riechen? Bestimmt würde man immer wieder den vielen, verschiedenartigen Forderungen solcher Frauen gegenüberstehen und sich ihnen gegenüber schwach fühlen. Erst hatte Fritz an diesem nächsten gemeinsamen Spaziergang geschwiegen. Er schien nicht so zu sein wie sonst immer, zutraulich und anhänglich. Schließlich gestand er das, was sein Verhalten erklärte: „Ich muß vor Gericht. Gegen mich ist Anklage erhoben worden.“ Ein gewisses Irmchen und ihr Freund, beide Mitglieder des Opernchors, hatten einen Vermieter, einen Peiniger, einen Bluthund. So berichtete Windgassen. - Um Irmchen und ihren Freund ging es also dabei. Auf Nachfragen hätte Windgassen sicher gesagt, daß man sich auf ihn ein Leben lang verlassen könne, und das gelte auch für alle seine Freundinnen. Hier bewies er es. Die Vernehmung vor Gericht war die schlimmste Strafe, die Fritz ertragen mußte, und der größte Triumph für den Vermieter, den der sich wünschen konnte. Fernal saß ganz hinten ihm Saal. Vor sich sah er Windgassens Freundin Irmchen und ihren Freund mit bleichen Gesichtern, sonst aber nur Freunde des Vermieters, natürlich hartherzige Geschäftsleute wie der Vermieter auch, also niemand vom Zollamt und niemand aus der Familie. Anschließend, im Restaurant „Gerichtsklause“ – wie gemütlich doch alles sein konnte -, lehnte sich Fritz erschlafft zurück. Wie man jetzt so weiterleben solle – die Strafe sei doch erträglich ausgefallen, nur eine Geldstrafe, wandte Fernal ein. Nein, sagte Windgassen, er sei zu einem erbärmlichen, würdelosen, kackenden Popanz gemacht worden. „Ich will nicht mehr,“ sagte er. Der sonst so gesellige Fritz Windgassen saß in der nächsten Zeit viel daheim, still, nachdenklich. Dann fing er wieder an zu schreiben. Die erste Geschichte zeigt er seinem Freunde Hans. Sie handelte von einer uralten Frau in Ostpreußen, der es gelingt, Frieden in einer Familie zu stiften. © Karl Otto Mühl - Ersveröffentlichung in den Musenblättern 2007 |