Windgassen oder: Die Sendung des Dichters

Eine Erzählung

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker

Die Sendung des Dichters

 

Ein friedlicher Ort ähnlich Shangri La war für Hans Fernal das wirklich vorhandene Tal mit dem Schieferhaus, durch das die Wupper inmitten bewaldeter Berge und buckeliger Wiesen nach Westen in Richtung Solingen fließt, und danach entspannt ausklingend, fast unauffällig, zum Rhein.

Hier wohnte der Dichter Windgassen, erst vor kurzen von der Finanzverwaltung als Abteilungsleiter in das hiesige Hauptzollamt versetzt, nur selten dichtend, dennoch von Fernals Freund Prees scherzhaft zum Dichter Windgassen ernannt. Im Kriege war er in Fernals Gefangenen-Camp in Ägypten Küchenchef gewesen. Im Wüstencamp hatte er in der nur von einem Segeltuch überspannten Freiluftküche vor dem riesigen Kessel gestanden und mit der mächtigen Kelle im Eintopf herumgerührt. An der Art des Herumrührens erkannten die Beobachter unter den Gefangenen, die immer in der Nähe der Lagerküche herumlungerten, die Konsistenz der Brühe, eilten davon und berichteten darüber. Es war ein Thema, das jeden interessierte. Niemand verhungerte  damals im Lager, aber alle hatten immer etwas Hunger.

Fernal hatte daheim Windgassens Welt kennengelernt und sich verzaubern lassen, so wie Windgassen selbst ständig von seiner Welt verzaubert war wie einst der umtriebige Ritter Don Quixote. Für ihn strahlte seine Frau Margot unendliche Mütterlichkeit, Anhänglichkeit und Bewunderung aus und war ihm bis in den Tod verbunden. Nie würde er diesen einmaligen Menschen verlassen.
Die Gefahr bestand auch nicht, weil Fritz Windgassen seine Abenteuer – und er lernte bei seinen Auswärts-Verzollungen viele freundliche Frauen kennen – alle im Wald in seinem Kleinstwagen bestand. Diese Frauen waren alle freundlich und verständnisvoll wie er sagte, sodaß nie Probleme entstanden. Sie stimmten mit Fritz überein, daß seine wunderbare Frau Anrecht auf jegliche Rücksichtnahme hatte. Sie lasen aber Fritzens Kurzgeschichten – zwei waren davon schon in einer Zeitung veröffentlicht worden -, was seine Frau nicht tat, weil sie überhaupt nichts las, sondern ununterbrochen im Hause schaffte. Fritz selbst hielt sich, natürlich unausgesprochen, für einen Zauberkünstler, der jedem Menschen helfen konnte, vor allem eben Frauen. Für sie, das hieß für alle, denen er je nahe gewesen war, fühlte er sich sein Leben lang verantwortlich und auch berechtigt, nötigenfalls in ihre Bemühungen, das Leben zu meistern, einzugreifen.

Fernal fand, daß Fritz Windgassen ein Lebenskünstler war. Manchmal machte Fernal  sich Gedanken über das strapaziöse Liebesleben von Windgassen im Kleinstwagen, das nach seiner Meinung zu Schäden am Skelett führen konnte.
Auch mit seinem Sohn Werner hatte Fritz Windgassen eine glückliche Hand gehabt. Er war von größter Anhänglichkeit, arbeitete nur manchmal einige Stunden in einer Gärtnerei. Abends, beim Heimkommen, fiel er seinem Vater und auch seiner Mutter um den Hals, beide wollte er überhaupt nicht mehr loslassen.
Das tat er außerhalb der Arbeitszeit wirklich nicht. Da hing er an seiner Mutter, ja er begleitete sie auf Schritt und Tritt, in den Keller, in den Garten, in den Supermarkt, zur Änderungsschneiderin, zum Arzt. Der Vater war ja seltener daheim, ja manchmal hatte er, wie er sagte, sogar noch abends dienstlich zu tun.
„Allein bekommt er schnell Angstzustände“, sagte die Frau Margot über den Sohn, „er braucht uns.“

Mit dem Jungen habe man dennoch das große Los gezogen, meinte Windgassen. Nie würden er und seine Frau allein und einsam sein. Der Junge werde immer zu ihnen halten. Die Möglichkeit, daß er einmal ausziehen könnte, gab es nicht.

Hinter Windgassens Haus stiegen die bewaldeten Berge steil an. Manchmal war  Fernal irritiert von Windgassens weitreichenden Phantasien, aber alles war vergessen, wenn er die Freude über seinen Besuch in dessen Augen sah, wenn sie plaudernd den Serpentinenweg zu diesen steilen Anhöhen hinaufstiegen und Windgassen von seinen Abenteuern mit Lotti, Irmchen und Beate erzählte, von mehlverstaubten Umarmungen im Hinterzimmer einer Bäckerei, und alle diese hitzigen Begegnungen wieder unterbrochen vom Dienst beim Zoll, vom nächtlichen Einpacken von Gesundheitsextrakten in Flaschen im Versandgeschäft, das seine Tochter betrieb, begleitet von Lobreden auf seine treue Frau Margot, mit der es „immer noch am schönsten“ ginge. Manchmal half er seiner Tochter bei Zeitmangel sogar nachts in ihrem Geschäft. Schlaf gab es eigentlich nur in den Pausen seiner Aktivitäten. Dabei spürte er zunehmend Herzschmerzen, die er am wirksamsten mit einigen Schlucken aus der Schnapsflasche zu bekämpfen behauptete. Ein Mann, der lebte wie eine lodernde Flamme, ein Mann, der seine Freunde liebte. Das machte alles gut, fand Fernal. Und Windgassen hatte längst die Erfahrung gemacht, daß einem Manne nur von Männern bestätigt werden kann, daß er etwas wert ist.

Manchmal setzten die beiden Freunde sich eine Viertelstunde auf einen Stapel Eisenbahnschwellen auf einem stillgelegten Bahnhof in der Nähe. Die Nachmittagssonne strahlte mild, die bescheidenen Pflänzchen und Halme zu ihren Füßen neigten sich geschwätzig hin und her und einander zu, das Dach des verfallenen Gebäudes glänzte schwarz, und wenn man weg- und wieder hinblickte, war es immer noch dort und bewies Beständigkeit, und alles ruhte friedlich, so wie es Fernal es sich in dieser Zeit  für sich besonders heftig wünschte; hier spürte er niemals Langeweile, denn alles um ihn herum strahlte Erwartung aus wie an einem ersten Ferientag.

Fernal begleitete den Freund zurück zu dessen  Frau Margot, die ihnen so entgegenlächelte, so als ob die beiden Großes und Verdienstvolles vollbracht hätten. Frau Margot hörte von diesem Augenblick an nicht auf mit Fragen und Vorschlägen, die alle das Wohlbefinden und Wohlergehen ihres Mannes betrafen. Freilich nahm sie dabei auch ständig seine Aufmerksamkeit in Anspruch, was ihm sicher längst nicht mehr auffiel. Es war der unsichtbare Gewinn, der ihr zufiel.
Fernal fiel die Veränderung auf, die mit Fritz in Gegenwart seiner Frau auftrat. Plötzlich wußte er überhaupt nicht mehr, wo irgend etwas lag, wie es zu beschaffen, geschweige den zu holen, zu reichen oder zu tragen war. Bei jedem Gegenstand, der bewegt werden mußte, schien die Hilfe von Margot unentbehrlich.

Nach einem der letzten Besuche bei Windgassen fiel sie ihm kurz vor dem Einschlafen ein, die Frau Margot des Dichters und Zollbeamten. Daß Menschen so viel Raum in einem Leben einnehmen konnten, Frau Margot also in dem von Windgassen! Mußte er, Fernal, bei dieser Art von Bedrohung nicht heilfroh sein, allein zu leben? Natürlich kannte er Stunden heißer Begierde, aber wenn die nicht vorhanden oder vorbei war, was tun mit diesem Menschen, mit diesem Körper, der ihm da so hartnäckig Raum wegnahm? Vielleicht wurde man abgestoßen von dem fremden Kleider- und Körpergeruch einer Frau. Manchmal rochen die Kleider nach Sommerhitze, Staub, Schweiß. Mochte man überhaupt jemand Fremdes riechen? Bestimmt würde man immer wieder den vielen, verschiedenartigen Forderungen solcher Frauen gegenüberstehen und sich ihnen gegenüber schwach fühlen.
Dann verblassten diese Anmutungen und lösten sich auf, und die Vorstellung von zwei Persönlichkeiten, Windgassen und Frau Margot, wurde deutlicher. Eine Wahrheit, die sich mit Macht erschloß, stand plötzlich vor ihm: Da war der Luftgeist Fritz Windgassen, trotz wettergegerbtem Gesicht und wildem dunklen Haar ein Luftgeist, der überall hindrang und nirgendwo widerstand, seine Kraft bestand und verschwand im Herumschweifen, und da war die dickliche Margot, die ihn bewunderte, die ein weises Geschick schon als Kind zu Einfalt, unendlicher Bescheidenheit und Demut bestimmt hatte, und siehe da, die beiden paßten wunderbar zusammen und hatten dies schon in der ersten Minute ihres Ineinander-Verliebens gefühlt.
An diesem Abend schlief Fernal mit der Überzeugung ein, daß die Welt in Ordnung war.

Erst hatte Fritz an diesem nächsten gemeinsamen Spaziergang geschwiegen. Er schien nicht so zu sein wie sonst immer, zutraulich und anhänglich. Schließlich gestand er das, was sein Verhalten erklärte: „Ich muß vor Gericht. Gegen mich ist Anklage erhoben worden.“
Das war ein Schlag auch für Fernal. Er fühlte Angst. So etwas konnte einem passieren, man konnte vor Menschen treten müssen, die über einen richteten und keine Rücksicht darauf nahmen, daß man ein gutherziger, freundlicher und anständiger Mensch war. Was war geschehen?

Ein gewisses Irmchen und ihr Freund, beide Mitglieder des Opernchors, hatten einen Vermieter, einen Peiniger, einen Bluthund. So berichtete Windgassen. -
„Ja, ja, ich kenne die Geschichte doch,“ sagte Fernal zu Windgassen, als dieser alles zum wiederholten Male erzählen wollte. „Der Vermieter kujoniert die beiden. Er schreit durch die Wände, wenn sie ein bisschen ihre Musik üben, du weißt schon, ihren Gesang“
„Ja, ich weiß.“
Windgassen blieb auf einem braunen Hügel von Fichtennadeln stehen: „Und jetzt hat er ihnen gekündigt. Sie wohnen schon zehn Jahre da. Es ist zum Kotzen. Da habe ich nicht mehr mitgemacht. Das dürfen sie meinen Freunden nicht antun.“
„Freunde? Du hast nie von Ihnen erzählt.“
Nun ja, es gehe um Irmchen.
„Irmchen? Triffst du die noch?“
Irmchen war eine  seiner Freundinnen. Manchmal traf er sie, manchmal auch längere Zeit nicht. Da dies auf die Dauer für das Mädchen nicht zumutbar war, hatte er ihr geraten, sich wenigstens nebenher einen festen Freund zu suchen, und das hatte sie schließlich getan und war sogar mit ihm zusammen in eine Wohnung gezogen.

Um Irmchen und ihren Freund ging es also dabei. Auf Nachfragen hätte Windgassen sicher gesagt, daß man sich auf ihn ein Leben lang verlassen könne, und das gelte auch für alle seine Freundinnen. Hier bewies er es.
Das war durch und durch der Fritz Windgassen, der kein Unrecht ertrug. Dieser Mann  stand auf, er trat  vor die Leute und – ja, was hatte er ihnen denn gesagt?
„Gesagt habe ich nichts“, sagte Fritz mit verschämtem Lächeln. Er habe dem Vermieter ein Paket geschickt – wieso das denn, wollte Fernal wissen -, aber dieses Paket habe es natürlich in sich gehabt.
Es kam heraus, daß es ein Fäkalienpaket war, und auf dem Einpackpapier stand noch Windgassens Adresse, innen, weil es natürlich kein frisches Packpapier war. Auf die Innenverpackung, dicht und geruchssicher, hatte Windgassen Fleiß und Kunst verwandt. Nun würde er bald vor den Richtern stehen. ...

Die Vernehmung vor Gericht war die schlimmste Strafe, die Fritz ertragen mußte, und der größte Triumph für den Vermieter, den der sich wünschen konnte. Fernal saß ganz hinten ihm Saal. Vor sich sah er Windgassens Freundin Irmchen und ihren Freund mit bleichen Gesichtern, sonst aber nur Freunde des Vermieters, natürlich hartherzige Geschäftsleute wie der Vermieter auch, also niemand vom Zollamt und niemand aus der Familie.
Der Richter wollte alles quälend genau wissen. Was Windgassen bewegt hatte, wie er auf diesen Einfall gekommen sei, ob er öfter solche Pakete verschicke –
Auf Fritz Windgassens Stirne stand der Schweiß, die Augen waren weit aufgerissen. Hans Fernal litt mit ihm.
Windgassen schilderte die Belästigungen durch den Vermieter wie sie ihm von Irmchen berichtet worden waren, der beim geringsten Geräusch, schon bei ein bißchen Gesang, hart gegen die Wand klopfte, die täglichen Zettel im Briefkasten, die Gerüchte über Einzelheiten beim intimen Verkehr der beiden Sänger, die der Vermieter angeblich durch die Wand erlauscht und dann im Hause verbreitet hatte, alles in allem unerträglich.
Der Richter wiegte den Kopf: „Aber so ein Paket.... Wer soll das denn ertragen!“
Es kam noch schlimmer für Windgassen. Er solle demonstrieren, wie er den – äh – das Material in das Paket gefüllt habe – ach, in der Hocke? Wie denn? Er möge sie einmal vormachen, diese Hocke, nur, damit man sehe, ob er dazu in der Lage sei....

Anschließend, im Restaurant „Gerichtsklause“ – wie gemütlich doch alles sein konnte -, lehnte sich Fritz erschlafft zurück. Wie man jetzt so weiterleben solle – die Strafe sei doch erträglich ausgefallen, nur eine Geldstrafe, wandte Fernal ein. Nein, sagte Windgassen, er sei zu einem erbärmlichen, würdelosen, kackenden Popanz gemacht worden. „Ich will nicht mehr,“ sagte er.
Fernal hielt es für möglich, daß Fritz in einigen Monaten über diesen Vorfall lachen würde, aber das wagte er ihm jetzt nicht zu sagen, und dann fiel ihm auch ein, daß er selbst vielleicht noch lange mit diesem „Vorgang“, wie beide es jetzt und weiterhin nannten, die Vorstellung eines hockenden Fritz Windgassen mit herunter  gelassener Hose, verbinden würden.

Der sonst so gesellige Fritz Windgassen saß in der nächsten Zeit viel daheim, still, nachdenklich. Dann fing er wieder an zu schreiben. Die erste Geschichte zeigt er seinem Freunde Hans. Sie handelte von einer uralten Frau in Ostpreußen, der es gelingt, Frieden in einer Familie zu stiften.
Es war seine bisher beste Erzählung. Er hatte nicht umsonst gehockt.

Die Geschichte wurde sogar in einer Zeitung gedruckt, aber dann begann für Windgassen eine Zeit der Ruhe und Zurückgezogenheit. Das mörderische Tempo seiner Lebensführung hatte zu einem Herzinfarkt geführt, der monatelang auskuriert werden mußte.


© Karl Otto Mühl - Ersveröffentlichung in den Musenblättern 2007