Kopfstand der Werte

Erinnerungen an Paul Pörtner, der heute vor 28 Jahren starb

von Karl Otto Mühl

Paul Pörtner - Foto: Stadt Wuppertal
Kopfstand der Werte
 
Als er 1946 den Torquato Tasso inszenierte, schrieb der Rezensent Grischa Barfuß über die Inszenierung: „Der Turm ist zusammengebrochen und hat die Türmer unter sich begraben.“ Zu mir sagte Paul Pörtner: „Ich habe in meinem Leben nur schlechte Kritiken gehabt, immer nur schlechte.“ Er verkaufte zeitweise Bohnerwachs, aber er heiratete in eine Industriellenfamilie. Er verließ seine Familie eines Tages, aber er hing an seinen Kindern, die bekannte Autorinnen und Autoren, Filmer und Pädagogen wurden. Ein Buch, das seine Tochter schrieb, heißt „Mein Vater und andere Betrüger“. Ich denke, daß die Tochter, Milena Moser, den Titel mit einem Augenzwinkern wählte. Oder sie hat übersehen, was hinter seinem Verhalten und kleinen Schwindeleien steckte: Die Unfähigkeit, Nein zu sagen und die Weigerung, Schmerzliches mitzuteilen. Und vielleicht ist das auch die Erklärung für seine Eskapaden, die hauptsächlich darin bestanden, daß er schwärmerische Verehrerinnen hatte. So wie ich ihn kenne, konnte er nicht lügen. Ich weiß, das Letztere ist wahrscheinlich ein Defekt. Ich kenne mehrere Menschen, die so pathologisch sind, daß sie nicht lügen können, aber ich denke immer, daß sie ganz nahe am Herzen Gottes wohnen. Bevor ich aus seinen Lastern Tugenden mache, gebe ich zu, daß er für Frau und Kinder wahrscheinlich ein geliebtes Irrlicht war. Sicher konnte er nicht mit Geld umgehen (Er hat später doch ein kleines Vermögen hinterlassen), sicher war er unzuverlässig, wenn es nicht gerade um Literatur ging, natürlich begeisterte er sich ununterbrochen für andere und neue Menschen und natürlich Frauen. Aber richtig gesündigt gegen das Achte Gebot hat er wohl selten. Sein Laster war eher die Begeisterung. Mir fällt zu dieser Art von Charakter ein, daß Evelyn Waugh eine Figur schilderte, die auch so ohne Zuverlässigkeit und Willenskraft war („No power of will, schreibt er). Diesen Menschen sah der Autor (durch eine andere Figur) als Heiligen an, der sich mit seinem Laster in Demut annahm. Heute sehe ich da bei Pörtner Vergleichbares. Und natürlich kommt hinzu, daß er ein treuer und hingebender Freund war. Er regte jeden in unserer Künstlergruppe an, die er begründet hatte. Es war der Er hat ihn gegründet, den TURM, die Künstlervereinigung. 1946, inmitten einer Trümmerstadt.

Er hieß Paul Pörtner und hatte deformierte Füße. Er ermutigte jeden von uns, von dem er den Eindruck hatte, daß er sich ehrlich bemühte. Und er schrieb. Er schrieb, er kritzelte Tag und Nacht. Er schrieb in seinem Zimmer, er schrieb unter dem Sonnenschirm in der Badeanstalt, er schrieb im Zugabteil, wenn er zum Studium nach Köln fuhr. Allzu lange hat er nicht studiert, aber er hat damals den französischen Expressionismus in den Vordergrund gerückt. Regisseure, Schauspieler, Autoren, Komponisten, sie nahmen ihn alle ernst und kamen zu den abendlichen Treffen im Farbenlädchen seines kriegsblinden (!) Vaters, darunter auch Tankred Dorst, Harald Leipnitz, Fritz Meis, Arnfried Saddai, Rosel Schäfer, Kurt Niederau, Charles Wirtz und ich. Wir alle waren und blieben Freunde. Alles, was ich in dieser Schilderung sagen will, ist, daß seine Laster (Gutes Essen war sein einziges offensichtliches Laster) für mich heute auf dem Kopf stehen. Es waren auch Tugenden. Einige spürte ich schon damals, vor fünfzig Jahren. Er begann ein Studium, ich ging in eine Behörde, in der ich mich langweilte. Mein Vorgesetzter wies mir einen Schreibtisch zu und verlangte, daß ich acht Stunden am Tag Verordnungen durchlesen sollte. Es gab keine Unterbrechung, keine Abwechslung. Nach drei Monaten ging ich weg. Aber das ist eine andere Geschichte. Um etwas Geld zu verdienen, kochte und rührte Pörtners Mutter in einem großen Kessel, der in einem sehr kleinen Schuppen stand, Bohnerwachs, das sie in kleinere Behälter füllte. Die verkaufte und lieferte Paul dann aus. Kunden waren außer einigen Firmen hauptsächlich Behörden. Als sich die Einnahmen als unzureichend erwiesen, wurde er Reiseleiter. Das funktionierte mindestens ein Jahr.

Währenddem saß ich in einem Büro in der Industrie und stellte einen Katalog mit Ersatzteilen zusammen. Ich hatte zu leiden unter den Bemühungen eines Kollegen, der mit Alternativvorschlägen die Geschäftsleitung davon überzeugte, daß er es besser konnte als ich (was stimmte). Ich verdiente zweihundertfünfzig Mark im Monat.
Ihn dagegen sah ich immer wieder mit reizenden, quirligen, jungen Mädchen, die Klavierspielen gelernt hatten, oder Schauspielunterricht nahmen, oder Schauspielerinnen waren. Solche Mädchen lernte ich nicht kennen. Ich beneidete ihn. Er schien frei zu sein, wo ich gefesselt war. Natürlich hatte ich einen sicheren Job und fing nach und nach an, Auslandsreisen zu machen, wurde gelobt, weil ich so treu für zuhause sorgte. War ich nicht der Mann, der mit beiden Beinen im Leben stand? Und an seiner Mutter hing. Verdammt, warum war ich dann bloß nicht zufrieden? Und, obwohl er sicherlich Erfolg haben wollte und nicht zuletzt an sich selbst dachte, er sprach fast nur von Anderen, von Freunden und von künstlerischen Vorbildern. Er freute sich an anderen. Ach so, die Produktivität. Bevor ich mich entschlossen hätte, Künstler zu sein, hätte ich darauf bestanden, sicher zu gehen, daß mir immer etwas einfiel, und das viele Jahre lang. Da mir das niemand garantierte, ließ ich es lieber. Er wagte es, und die innere Not, ich denke, die war dabei, trieb ihn zu immer neuen Experimenten.
Er erfand neben Anderen das Mitspielstück. Mit einigen davon war er jahrelang der meistgespielte ausländische Autor in den USA. Und er erfand neben Anderen das O-Ton-Hörspiel. Soviel ich weiß, haben diese Hörspiele wenige gehört. Und wenn, dann ganz selten zu Ende. Er war erfolgreich erfolglos. Seine Prosa wurde wenig gelesen. Aber jeder in der Szene kannte ihn, und jeder hatte Wichtiges von ihm erfahren. Einmal gab er mir versuchsweise einen Prosatext, denn ich nach Herzenslust bearbeiten sollte. Ich strich alle skurrilen Metaphern heraus, aber er fand beim Durchlesen, daß er sich darin jetzt nicht wiederfand. Das sei er nicht, und so könne er nicht schreiben. Schreiben-Können war ihm wie uns allen das Wichtigste. Jeder schien einen Eiertanz um seine Produktivität herum aufzuführen. Jobs wurden aufgegeben, Ehen geschieden, Partner verlassen, weil sie die Produktivität behinderten. War es aber so weit, setzte sich der Künstler morgens an den Schreibtisch, so ertappte er sich immer wieder dabei, daß er aufstand, um seine Schuhe zu putzen oder sich eine Zeitung zu besorgen. Es war schon ein Kreuz.

Ich bin an dem Haus vorbeigefahren, nein, an dem Platz, wo es stand, das Haus seiner Eltern. Das alte Fachwerkhaus ist abgerissen worden. An manchen Ecken traut sich immer noch kleines Gesträuch aus Mauerritzen. Eine Epoche ist vergangen, eine und einer nach dem anderen sind gestorben. Auch ihn habe ich kurz vor seinem Tod in einem Münchener Krankenhaus besucht. Wir schoben ihn im Rollstuhl im Kellergeschoss durch die dämonischen Gänge mit Röhren an den Wänden. Er war zu einer der nutzlosen diagnostischen Maßnahmen bestellt. Ich hatte ihm einen läppischen Trost mitgebracht, ein befreundeter Arzt hatte Hoffnungsvolles zu seinem Zustand bemerkt. Er hatte immer den Mut zum Scheitern, aber Sterben wollte er nicht.
Ich sehe viele Bilder vor mir: Pörtner als Fünfzehnjähriger im Trenchcoat mit Kamera vor dem Bauch. Wir, kleine Lehrlinge und Schüler im Alltag, hatten ein Büro in einer herrschaftlichen Villa, die von der Hitlerjugend genutzt wurde. Dahin waren ich und andere zur Pressestelle kommandiert worden und verfaßten Pressenotizen über Sportfeste und Aufmärsche. Oder wir trennen uns nach einem Dienstabend, er geht in sein Haus, wo er im Keller mit Freunden englische Jazzmusik, die verboten ist, abhört. Oder ich werde angerufen, seine Mutter sei im Altersheim tot aufgefunden worden. Ich hole ihn vom Flughafen ab und wir fahren zu ihr. Sie sitzt steif wie eine Puppe neben der Badewanne auf einem Hocker. Ich kann nicht erkennen, ob er erschüttert ist. Sie hat ihn als Jungen dominiert. Auch später wollte sie seine Kleidungsstücke beim Kauf aussuchen. Schon früh hatte er Strategien gelernt und geübt, um ihr zu entwischen. Oder, ich besuche ihn in Hamburg, wo er als Redakteur arbeitet. Im Nebenzimmer zu seinem Büro steht eine Couch, auf der er sich immer wieder ausruht. Das Herz ist ruiniert. Dennoch gehen wir essen und trinken, die Freude läßt er sich nicht nehmen. „Die wollen mich loswerden“, sagt er beiläufig. „Ich sei ein zu bunter Vogel. Aber ich muß ja existieren.“ Wir fanden einen Weg für ihn, der ihn sicherte. Fast dreißig Jahre sind vergangen, seit er starb.

Heute ist es diesig. Der Himmel ist durchgehend grau, da ist nicht einmal Gewölk zu sehen. Langsam wird ein Gesicht deutlicher, es blickt mich an, kommt näher. Ich höre ihn flüstern: „Du! Hör zu!“ „Was ist denn, Paul?“ frage ich verwirrt. „Du! Sprich mit denen. Ich will zurück.“ Er liebte das Leben.
 
 
© 2012 Karl Otto Mühl
 

Paul Pörtner,
* 25. Januar 1925 in Elberfeld; † 16. November 1984 in München
Informationen über Paul Pörtner auch unter:
  musenblaetter.de
und  www.wuppertal.de/