Lose Frau Gevatterin...

Ein morgendlicher Brief

von Georg Christoph Lichtenberg
An Frau Christiane Dieterich              
[Göttingen, Anfang 1772?]
 
Lose Frau Gevatterin.
 
Sobald ich diesen Morgen nur eine Hand aus dem Bett nach dem Tintenfaß strecken konnte, so habe ich mich schon an Ihnen wegen des gestrigen gar nicht gevätterlichen Streichs gerochen. Ich habe nämlich eine sehr schöne Stelle in der Reisebeschreibung, die zu Ihrem Lobe war, ganz durchstrichen und eine andere hingesetzt, die Sie gewiß nicht ans Fenster stecken sollen. Leute, die nur so grade ins Ehebette steigen können wenn sie wollen, wissen nicht wie es andern geht, die das nicht können, zumal bei den jetzigen betrübten Zeiten, da alles fast nicht mehr zu bezahlen steht; diese Leute sollten also andern ihre kleinen Accidenzen und Sporteln, die ohnehin selten genug fallen, nicht mißgönnen, und so zu reden ihnen das liebe Brod aus dem Mund nehmen. Ich sehe aber leider wieder an diesem Beispiel, daß gewisse Personen die alte Eva, die ihnen anklebt, auch nicht ersäufen können, und sich nicht beklagen sollten, wenn wir den alten Adam zuweilen wieder ans Land schwimmen lassen.
 
Brauchen Sie dieses zur Vermehrung Ihrer Morgen Andacht
und seien Sie gevätterlich gegen

Ihren gehorsamsten Diener, Gevatter und Freund
G. C. Lichtenberg.