Herr Karol

(aus: „Die Zimtläden“)

von Bruno Schulz

Bruno Schulz
Herr Karol
 
Am Samstagmittag begab sich mein Onkel, Herr Karol, Strohwitwer, zu Fuß in die eine Wegstunde von der Stadt entfernte Sommerfrische zu Frau und Kindern, die dort zur Erholung weilten.
   Seit der Abreise der Frau war die Wohnung nicht aufgeräumt und das Bett kein einziges Mal gemacht worden. Herr Karol kam gewöhnlich zur späten Nacht in die Wohnung, hergenommen und verwüstet von den nächtlichen Trinkgelagen, durch die ihn diese glühenden und leeren Tage schleppten. Das kühle, wildzerwühlte Bett war dann für ihn eine Art glücklichen Hafens oder rettender Insel, auf das er mit dem letzten Rest seiner Kraft hinfiel, gleich einem Wrack, das viele Tage und Nächte auf dem stürmischen Meer getrieben hatte.
   Im Finstern blindlings tappend, fiel er irgendwohin zwischen die weißlich schimmernden Wolken, Gebirgsketten und Lawinen der kühlen Federn und schlief so in ungewöhnlichen Lagen, verkehrt, mit dem Kopf nach unten, mit dem Schädel in die flaumige Mätsche des Bettes gerammt, als ob er im Schlaf die nächtlich wachsenden schweren Massive der Federn durchbohren und von einem Ende zum andern durchwandern wollte. Er kämpfte im Schlaf mit diesem Bett wie der Schwimmer mit dem Wasser, knetete und walkte es mit dem Körper wie den Teig in einem ungeheuren Backtrog, in dem er versank, und erwachte im Tagesgrauen, keuchend, mit Schweiß übergossen, an das Ufer dieses Betthaufens geschleudert, den er in den schweren nächtlichen Kämpfen nicht zu besiegen vermochte. So, halb aus der Tiefe des Schlafs geschleudert, hing er eine Weile geistesabwesend am Rande der Nacht, schnappte mit der Brust nach Luft, und das Bett rings um ihn wuchs, schwoll an und gärte und überschüttete ihn von neuem mit einer Lawine weißlichen Teiges.
   Er schlief so bis in den tiefen Vormittag hinein, manchmal falteten sich die Kissen zu einer großen, weißen, flachen Ebene auf, über die sein beruhigter Schlaf wanderte. Auf diesen weißen Landstraßen kehrte er allmählich zu sich, in den Tag und in die Helle zurück - und schließlich öffnete er die Augen wie ein schlafender Passagier, wenn der Zug auf einer Station hält.
   Im Zimmer herrschte abgestandenes Halbdunkel mit einem Bodensatz Einsamkeit und Stille vieler Tage. Nur die Fenster brodelten im morgendlichen Gewimmel der Fliegen, und die Jalousien flammten in grellem Schein. Herr Karol gähnte aus dem ganzen Leib, aus der Tiefe aller Leibeshöhlen die Reste des gestrigen Tages heraus. Dieses Gähnen packte ihn so konvulsivisch, als ob sein Innerstes sich nach außen kehren wollte. So schleuderte er den Sand und den Ballast aus sich heraus - die unverdauten Überbleibsel des gestrigen Tages.   
   Nachdem er sich auf diese Weise erleichtert und etwas Luft gemacht hatte, trug er in das Notizbuch die Ausgaben ein, kalkulierte, rechnete und träumte. Dann lag er lange regungslos mit verglasten Augen da, die wasserfarben, vorquellend und feucht waren. Im wäßrigen Halbdunkel des Zimmers, das vom Reflex des glutheißen Tages hinter den Jalousien aufgehellt wurde, gaben seine Augen wie kleine Spiegel alle glänzenden Gegenstände wieder: die weißen Flammen der Sonne in den Ritzen der Fenster und die goldenen Rechtecke der Jalousien, und wiederholten wie ein Wassertropfen das ganze Zimmer mit der Stille seiner Teppiche und leeren Sessel.
   Indes lärmte der Tag hinter den Jalousien immer lauter, flammender durch das Summen der sonnentollen Fliegen. Die Fenster konnten diese weiße Glut nicht mehr ertragen, und die Jalousien fielen von den hellen Wogen in Ohnmacht.
   Alsdann wickelte er sich aus der Bettwäsche und blieb noch eine Zeitlang auf dem Lager sitzen, wobei er unbewußt stöhnte. Sein etliche dreißig Jahre alter Körper neigte allmählich zur Korpulenz. In diesem Organismus, vor Fett anschwellend, durch geschlechtlichen Mißbrauch abgequält, aber dennoch sich fortwährend mit üppigen Säften füllend, schien jetzt allmählich in dieser Stille sein künftiges Los heranzureifen.
   Wenn er so in gedankenloser, vegetativer Erstarrung dasaß, ganz in kreisende Taubheit, in Respiration, in tiefes Pulsen der Säfte verwandelt, wuchs in der Tiefe seines verschwitzten und an verschiedenen Stellen mit Haaren bedeckten Körpers eine unbekannte, ungeformte Zukunft, eine mißgestaltete Wucherung  gleichsam, die phantastisch in unbekannte Dimensionen schwoll. Sie erschreckte ihn nicht, denn er spürte schon seine Identität mit diesem Unbewußten und Gewaltigen, das kommen mußte, wuchs in merkwürdiger Übereinstimmung zugleich mit ihm, ohne sich zu widersetzen, erstarrt in ruhig friedlichem Grauen, weil er in diesen kolossalen Wucherungen, in diesen phantastischen Türmungen, die vor seinem inneren Blick reiften, sein zukünftiges Ich erkannte. Das eine seiner Augen blickte dann leicht nach außen, als wanderte es in anderen Gevierten.
   Dann kehrte er aus diesem sinnlosen Dämmerzustand, aus diesen verfluchten Fernen wieder zu sich und dem Augenblick zurück; er sah seine Sitzspuren auf dem Diwan, dick und delikat wie von einer Frau, und nestelte langsam die goldenen Knöpfe aus den Manschetten seines Taghemdes heraus. Dann ging er in die Küche und fand dort in einem dunklen Winkel ein Eimerchen mit Wasser und den Scherben eines stillen, wachsamen Spiegels, der auf ihn wartete - das einzige lebende und wissende Wesen in dieser leeren Wohnung. Er goß Wasser in die Waschschüssel und kostete mit seiner Haut dessen junge, abgestandene und süßliche Nässe.
   Er machte lange und sorgfältig Toilette, ohne sich zu beeilen, und legte zwischen den einzelnen Manipulationen Pausen ein.
   Diese leere und verlassene Wohnung erkannte ihn nicht, hatte kein Erbarmen mit ihm, die Möbel und Wände verfolgten ihn mit schweigender Kritik.
   Er fühlte sich, wenn er ihre Stille betrat, als Eindringling in diesem versunkenen Königreich unter Wasser, in dem eine andere, besondere Zeit verrann.
   Wenn er die eigenen Schubladen öffnete, hatte er das Gefühl, ein Dieb zu sein, und ging wider Willen auf den Zehenspitzen, weil er fürchtete, ein lautes und übermäßiges Echo zu wecken, das gereizt auf die erstbeste Gelegenheit wartete, um loszubrechen.
   Und wenn er schließlich, leise von Schrank zu Schrank gehend, Stück für Stück alles Nötige gefunden und inmitten der Möbel, die ihn mit abweisender Miene schweigend tolerierten, seine Toilette beendet hatte und endlich, den Hut in der Hand, ausgehfertig stehenblieb, fühlte er sich geniert, daß er auch im letzten Augenblick keine Worte fand, um dieses feindselige Schweigen  zu entbinden, und ging resigniert, langsam und mit gesenktem Kopf zur Tür, Während sich auf der gegenüberliegenden Wand jemand, der ihm den Rücken zuwandte, ohne Eile durch eine öde Flucht nicht vorhandener Zimmer in die Tiefe des Spiegels hinein entfernte. 
 
 
 
Aus: Die Zimtläden (1934)
aus dem Polnischen von Josef Hahn
 
Heute vor 70 Jahren, am 19. November 1942, wurde der Schriftsteller,
Graphiker und Maler Bruno Schulz von dem SS-Schergen Karl Günther
in Drohobycz/Polen willkürlich auf offener Straße erschossen.

Zur begleitenden Lektüre empfohlen:
Ugo Riccarelli - „Ein Mann der vielleicht Schulz hieß“
Verlag C.H. Beck, 1999