Tageslauf mit Ladegerät

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Tageslauf
mit Ladegerät
 
Wir haben heute Morgen eine Kaffee-Genossin, eine Heilpraktikerin. Von ihr erfahren wir, wie sie ihre Klienten zur Muskelentspannung bringt. Sie legt sie auf erhitzte Roßkastanien.
Man spürt, daß es ihr sehr wichtig ist. Nun gut, wenn es hilft.
Inzwischen hat sich einiges vom gewohnten Personal angesammelt, ein Fliesenleger, ein Installateur, ein Leitungsbauer, ein Baumeister, eine Psychiatrie –Patientin, deren Sympathie ich zu genießen scheine, dazu ich, und natürlich die Hauptbäckerin. Ich zerre ein kleines Gerät aus meinem Einkaufbeutel, ein Ladegerät für kollabierte Autobatterien, das man in die Zigarettenanzünder steckt. Ob die dünnen Kabel ausreichten, ob es nennenswerte Leistung erbringe, frage ich in die Runde.
Das Ergebnis ist Balsam für mein Selbstbewußtsein. Die wackeren Fachleute ringsum betasten es mißtrauisch. Mein Freund Hermann meint, in dem kleinen Ding könne unmöglich viel Strom stecken. Ich belehre ihn, daß man zwei Autos dazu braucht. Hermann verbirgt seine Überraschung perfekt.
 
Der Leitungsbauer meint, der Vorteil liege einfach darin, daß man leicht an die Stromanschlüsse herankäme. Der Bauingenieur gesteht, daß er Elektrizität haßt. Man könne bei einigem Geschick alles ohne sie erreichen. Zum Beispiel könne man einen Rucksack konstruieren, bei dem Gewicht und schaukelnde Bewegung, richtig übertragen, Wärme erzeugten. Ich verzichte darauf, ihm zu erklären, daß man einen Generator im Rucksack brauchen würde, der den verhaßten, elektrischen Strom erzeugen könnte.
 
Es zeigt sich, daß die Hauptbäckerin und ich die Einzigen zu sein scheinen, die etwas von elektrischen Zusammenhängen ahnen. Ich denke über den begrenzten Interessen-Horizont bei Fachleuten nach. Politiker interessieren sich nicht für Technik, Literaturmenschen nicht für Medizin; Ärzte nicht für Literatur und Geschichte, Rohrleitungsbauer nicht für Elektrizität. Studenten müssen in der Sprache der Wissenschaft den Lehrstoff wiedergeben können. Keine Spur von selbstständiger Reaktion auf die gelehrten Theorien finde ich den Diplomarbeiten, die mir im Bekanntenkreis manchmal in die Hände geraten. Und das untrügliche Zeichen von Souveränität, Humor, ist so selten wie das Edelweiß.
 
An dem Kaffee-Hilfstischchen hinter der Eingangstüre steht ein Arbeiter im roten Pullover. Die Hauptbäckerin verweist mich an ihn, er sei Elektriker. An seiner Sprache merke ich, daß er aus Polen stammen könnte, vielleicht aus Oberschlesien.
Auch er betastet das Gerät mißtrauisch, liest den rückseitigen Text, hält es mit Abstand vor sich, meint zum Schluß, zum Starten reiche es sicherlich aus.
 
Solchermaßen belehrt, gehe ich in den Zeitungsladen, wo ein alter Mann gerade dem Verkäufer berichtet, daß ein Boulevard-Journalist in einer TV-Sendung den Wetterfrosch Kachelmann einen „Wetterfuzzi“ genannt hat. Das finde ich arrogant und ärgerlich.
 
Draußen steht ein Nachbar ans Haus gelehnt und raucht nachdenklich. Er gibt viel Geld dafür aus, aber man sagt, daß er Schulden hat. Trotzdem würde ich ihm das Rauchen nicht ankreiden. So leicht wird man eine Sucht nicht los.
 

© 2012 Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern