Ein Pferd ist ein Pferd

Eine Kandinsky-Novelle

von Wolf Christian von Wedel Parlow
Ein Pferd ist ein Pferd
 
Froh, ihrem ständigen Spott, er habe bisher noch nie auch nur einen Euro zum gemeinsamen Haushalt beigetragen, endlich etwas Handfestes entgegensetzen zu können, reiste Friedrich nach Nürnberg, wo er im schriftlichen Nachlaß Franz Marcs beim Germanischen Nationalmuseum Schriftstücke zu finden hoffte, die von der Franz-Marc-Forschung bisher vernachlässigt worden waren. Er war ehrgeizig, und sein Ehrgeiz war es, das festgefügte Bild, das die Wissenschaft von dem Künstler gezeichnet hatte, durch seinen Beitrag für den Ausstellungskatalog zu erschüttern. In ein anerkennendes Staunen wollte er die Kollegen versetzen, die das Forschungsfeld besetzt hielten. Um endlich aufgenommen zu werden in ihren Kreis. Denn bisher war er ein Nichts in der Hierarchie der Franz-Marc-Forscher, zählte gerade einmal zum Fußvolk.
Der Archivbestand war seit seinem letzten Besuch in Nürnberg durch Neuzugänge erheblich gewachsen. Zweimal nahm er sich die Akten Stück für Stück vor − und mußte sich eingestehen, daß die Kollegen, die sich vor ihm dieser Fron unterzogen hatten, sorgfältig gearbeitet hatten. Es fand sich nicht ein Hinweis, der den Stand der Forschung korrigiert oder auch nur um eine Schattierung ergänzt hätte. Er war enttäuscht. Er würde sich nun auf das Übliche beschränken müssen, Leben und Werk des Künstlers darstellen, vielleicht unter Einbeziehung neuerer Veröffentlichungen. Mehr als ein konventioneller Katalogbeitrag würde dabei nicht herauskommen.
 
Ganz am Rande der Recherche war er auf ein Schriftstück gestoßen, das ihn inzwischen mehr beschäftigte als der Katalogbeitrag. Es handelte sich um ein Handschreiben an Franz Marc. Absender war ein gewisser Andreas, Arnulf oder Alexander – die Unterschrift ließ sich bei bestem Willen nicht genauer bestimmen. Der Verfasser – ob er nun Andreas hieß oder einen anderen Vornamen trug - schildert darin einen Besuch bei Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, bei dem er Zeuge einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den beiden wurde. Wer auch immer dieser Andreas war, vermutlich niemand vom Fach, weder Künstler noch Kunsthändler oder Kunstwissenschaftler, aber vielleicht ein wohlhabender Freund und Förderer sowohl Franz Marcs als auch der Gastgeber, wer auch immer er war, er war offensichtlich tief beeindruckt von dem Streit, so tief, daß er meinte, er müsse ihn Wort für Wort festhalten in seinem Brief an den Freund.
Friedrich fand den Brief bemerkenswert und begab sich sofort an die Transkription des nur schwer lesbaren Schriftstücks. Er tat sich immer noch schwer mit dem Entziffern altdeutscher Handschriften, aber wenn sie wie in diesem Fall auch noch mit nachlässiger Hand geschrieben waren, war es wirkliche Schwerarbeit. Doch die Mühe lohnte sich, wie er am Ende feststellte.
 
Lieber Franz, - so begann der unbekannte Briefschreiber - unsere Freunde haben mich sehr herzlich aufgenommen. Am Abend floß für mich ungewohnt viel Wein. Wassil las einen Brief seiner Mutter vor. Seit dem blutig niedergeschlagenen Aufstand von 1905 herrschen in Rußland unglaubliche Zustände. Hausdurchsuchungen. Denunziationen, willkürliche Verhaftungen, Verbannungen. Die herrschende Klaße hat Angst, daß sich so etwas wie der Aufstand von 1905 wiederholt. Sie versucht deswegen, jegliche politische Debatte zu unterdrücken. Wassil überlegt sich allen Ernstes, ob sein Platz jetzt nicht in Rußland sein sollte. Gabriele und ich versuchten, es ihm auszureden. Der Wein trug sicher viel zu der aufgewühlten Stimmung bei.
Am Morgen waren wir alle wie gerädert. Wassil war sehr still. Er stellte eine schon grundierte, große Leinwand auf und begann mit heftigem Pinselstrich irgendwelche für mich nicht identifizierbaren Gebilde zu entwerfen. Ich saß an der Wand und sah ihm zu. Wir wechselten kein Wort. Irgendwann rief er nach Gabriele und bat sie, uns Kaffee zu machen.
Bald darauf stieß Gabriele mit dem Ellenbogen die Tür auf und blieb mit dem Tablett im Türrahmen stehen. „Der Kaffee, Wassil, wie der Meister befohlen.“
Wassily, knurrend: „Stell ihn hin!“
„Schade um die Leinwand. Den ganzen Morgen bist du schon so aggressiv. Was ist los mit dir?“
„Was ist los mit dir“, machte er sie nach. „Hast du nicht gehört, was meine Mutter geschrieben hat? Gestern Abend habe ich dir den Brief vorgelesen. Mal du nur weiter deine Stilleben, deine friedlichen Dörfer. Dich berührt das alles nicht. Rußland, das ist so weit weg.“
„Und du meinst, du hilfst deinem Volk, indem du Blut über die Leinwand fließen läßt.“ Sie wandte sich zum Gehen.
„Bleib hier, Riele. Laß dir das erklären. Auch du kannst nur darstellen, was in deinem Kopf ist. Was steckt dort wohl drin in diesem Moment? Doch sicher wieder einmal ein Blumenstrauß. Hast du nicht gerade wieder einen gepflückt? Welcher Friede, welche Harmonie muß in so einem Blumenstrauß stecken!“
Gabriele verschränkte die Arme, ganz Ablehnung.
„Aber in meinem Kopf“, fuhr er fort, „gibt es nichts Harmonisches mehr seit dem Brief meiner Mutter. Kein Teich mit Seerosen, keine Kathedrale von Rouen. Sicher, das waren revolutionäre Darstellungen, aber wie fern von der gesellschaftlichen Situation. In meinem Kopf ist nur Zerrissenheit, nur die kann ich darstellen.“
„Dann mach eben mal eine Pause, du Berserker. Komm, wir machen einen Spaziergang.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Hebe dich hinweg, Verführerin!“ Er drückte einen Klecks tiefrote Farbe auf die Palette und mischte mit dem Pinsel eine Spur giftiges Grün hinein.
„Schon die Farben, die du nimmst, da ist nichts Wirkliches, nichts Erkennbares. Ästhetik, die Kunst der Wahrnehmung. Was soll, was kann der Betrachter auf dieser Leinwand erkennen? Du machst dir deinen Ruf kaputt, wenn du so weiter machst.“
„Vielleicht denkst du da an deinen eigenen Ruf, Riele. Daß du mit diesem Kerl zusammen bist. Die Kunst der Wahrnehmung, meine Güte.“ Er faßte sich an die Stirn. „Du machst es dir zu einfach, Riele. Es kann doch nichts Beliebiges sein, was wahrgenommen werden soll. Es geht um die Wahrheit in den Dingen, in ihrer Darstellung, im Prozeß ihrer künstlerischen Wiedergabe. Es wäre eine Lüge, wenn ich mich jetzt mit der Staffelei vor die Kirche stellte und – wie der unglückliche Sisley in Rouen – anfinge, meine Impression von der Kirche auf die Leinwand zu projizieren. Wahr ist nur das Chaos in meinem Kopf. Nur das kann ich in diesem Moment darstellen.“
„In diesem Moment. Niemand zwingt dich, in diesem Moment zu malen. Warum wartest du nicht einfach ab, bis du die Dinge wieder siehst, wie sie sind. Ein Baum ist ein Baum. Ein Pferd ist ein Pferd. Ein Reiter ist ein Reiter. Und die Zustände in Rußland sind, wie sie sind.“ Sie drehte ihm den Rücken zu und sah zum Fenster hinaus.
„Nun fehlt nur noch, daß du sagst, ich sei krank. Krank, weil unfähig, in einem Pferd ein Pferd zu sehen. Ich will es dir einmal genau sagen: Ein Pferd als Pferd darzustellen ist so überflüssig wie ein Kropf. Man sieht das Tier doch alle Tage. Das Pferd müßte schon irgendetwas auslösen, ein Gefühl, . . . weil es auf irgendetwas losgeht, weil es angreift. Aber Pferde sind Fluchttiere. Sie passen irgendwie zu deiner Harmoniesucht, die ja auch nur eine Art Flucht ist, Flucht vor der Wirklichkeit. . . . Jetzt bleib doch hier, Riele, du mußt nicht gleich beleidigt sein, wenn ich mal ein kritisches Wort verliere.“ Die Palette mit dem Pinsel in der Linken, ging er zu ihr hin und streichelte sie am Ohr. „Du hast mich da auf etwas gebracht.“ Er sah auf die Straße hinaus. „Ein Reiter könnte das Pferd lenken, zum Angriff . . . oder wenigstens zum Protest. Aber jetzt muß erst einmal diese Arbeit fertig werden. Schau mal, dieser schräge Strich könnte der Pferderücken sein, ein Pferd, das sich aufbäumt . . .“
„Kein Pferd hat einen so geraden Rücken!“ Sie sah immer noch zum Fenster hinaus, mit verschränkten Armen.
„Es geht doch nur um eine Andeutung. Wenn ich noch den Reiter hinzufüge, wird dem Betrachter schon klar werden, daß es sich hier verdammt nicht nur um eine aus der Verzweiflung geborene Komposition handelt. Natürlich ist alles ein wenig improvisiert. Mensch, vielleicht wäre Improvisation wieder einmal ein passender Titel, die Nr. 13 meiner Improvisationen . . . Schau nicht so verdüstert, Riele, ist doch ein guter Tag heute.“
Ich glaube, ich brauche Dir nicht zu erklären, warum ich den Wortwechsel zwischen den beiden so ausführlich wiedergebe. Es könnte manche Anregung für Dich darin enthalten sein. Indiskret bin ich nicht, meine ich. Ich hatte sie gefragt, ob ich Dir von dem Streit berichten dürfte.
Du erfreust Dich hoffentlich bester Gesundheit und ungetrübter Schaffensfreude.
In alter Freundschaft Dein getreuer ...
 
Kein Wunder, dachte Friedrich, daß der Brief keine Beachtung bei den Franz-Marc-Spezialisten gefunden hatte. Er betraf Franz Marc ja nur indirekt, hatte ihn vielleicht beeinflußt, aber beweisen ließ sich das nicht. Außerdem, was fing man als gestandener Franz-Marc-Forscher mit dem Brief eines Unbekannten an? Das machte sich einfach nicht gut in einem Fachbeitrag. Es hörte sich an, als habe der Verfasser da etwas konstruiert, den Brief vielleicht sogar erfunden. Die genaue Quellenangabe diente, wer weiß, vielleicht nur der Tarnung.
Für die Kandinsky-Forschung wäre das Schriftstück natürlich ein Fest, aber die schaute begreiflicherweise nicht in das Franz-Marc-Archiv, sie hatte genug damit zu tun, die schriftlichen Hinterlassenschaften ihres eigenen Hausgottes zu sichten. Und Friedrich hielt es für abträglich, sich als Fachfremder auf das Gebiet der Kandinsky-Forschung zu wagen. Man hätte seinen Beitrag wahrscheinlich belächelt. Er mußte auf seinen Ruf achten. Allzu leicht bekam man das Etikett eines Dilettanten angehängt.
Aber totschweigen wollte Friedrich den Brief des Unbekannten auch nicht. Denkbar schien eine Veröffentlichung im Feuilleton einer größeren Zeitung, vielleicht einer Wochenzeitung. Er bekäme damit ein weiteres Argument gegen den Spott seiner Lebensgefährtin in die Hand. Allerdings müßte er noch einen Vorspann verfassen, am besten, indem er schildert, wie er auf den Brief gestoßen ist. Ja, so wollte er es machen.
 
 
 
© 2012 Wolf Christian von Wedel Parlow
Erstveröffentlichung in den Musenblättern