Auf dem Marktplatz von Antwerpen

von Hanns Dieter Hüsch


© André Poloczek

         



Auf dem Marktplatz
von Antwerpen

Auf dem Marktplatz von Antwerpen
Dort wird morgen in der Früh
Ein Mensch versteigert
Ein etwa 60jähriger Mensch
Mit dem Aussehn eines Knaben
Nun, wer bietet mehr!?
Spanier, Griechen,
Schweizer, Schwaben
Und die Frage lautet: Wer von Euch
Wer von Euch will ihn haben?
 
Es stehn Sonderzüge schon bereit
Charterflüge, Omnibusse jederzeit
Für dieses Volksvergnügen
Warum nur nach Mallorca fliegen?
Also auf, ihr Leute, macht euch fein
Jeder will doch sicher gern der Erste sein
Wenn der Hammer fällt
Und es wird ein Mensch gestellt
Wie ein Hase auf dem Feld
 
Er ist weder Kommunist noch Anarchist
Er ist weder Atheist noch Christ
Ein simpler Durchschnittstyp
Nun, wen reizt so was, wer hat ihn lieb?
Er ist treusozial und asozial
Er ist groß und dick und dünn und schmal
Ein passiver Aktivist
Kurz: ein Stück Mist
 
Er ist homophil und stinknormal
Hochlabil und dennoch kollegial
Kalt und sensibel
Liest Karl May und dann die Bibel
Er ist schwarz und gelb und weiß und rot
Frißt genau wie du sein täglich Brot
Aber schlingt dabei
Schlürft und singt dabei
Tanzt und springt dabei
 
Seine Zähne sind zum Teil noch schön
Doch der Unterkiefer ist schon braun und grün
Denn er schluckt den Schnaps
Seit der Mühle mit dem Klaps
Er ist faul und fleißig durcheinand
Das was rechts ist macht er mit der linken Hand
Mit der rechten Hand
Das, was links gemacht
 
Er ist Utopist und Fatalist
Depressiv, dann wieder Futurist
Ziemlich frech und frei
Aber menschenscheu
Er ist stockkonservativ und radikal
Küng und Papst und alles auf einmal
Bis der Schädel bricht
Total verwahrlost
Ohne Wurzeln, wenn er spricht

 
Andrerseits erfüllt er seine Pflicht
Moralist sein will er aber nicht
Weil er als Nackter
Keinen Charakter
Er versucht verständlich sich zu machen
Kramt in diesen und in jenen alten Sachen
Aber nichts als Bruch
Durch den Widerspruch
 
In den Städten war er eine lange Zeit
Lief dann in die Wälder und war hocherfreut
Einen Baum im Rücken
Aber Bildungslücken
Lief dann im Gebirge auf und ab
Sprang auf Friedhöfen von Grab zu Grab:
Hier ruht Dr. Alfons Beck
Lassen Se doch den Doktor weg
 
Sein Humor ist ebenfalls nicht mehr von Dauer
Ständig liegen schwarze Wolken auf der Lauer
Ihn zu verbittern
Bei Gewittern, seit den Müttern
Überdies ist er schon reichlich schizophren
Mensch und Dinge nur noch von der Seite anzusehn
Als ihr Diener
Und Kapuziner
 
Er ist alles alles, nur nicht das
Alles zwischen Haß und Liebe, nur nicht das
Was jeder aus ihm machen will
Roboter aus Chlorophyll
Soll er tragisch oder komisch sein
Glücklich odertraurig, nein
Es heißt dressieren
Kontrollieren
 
Also gut, ihr Leute, macht euch fein
Jeder will doch sicher gern der Erste sein
Wenn der Hammer fällt
Und es wird ein Mensch gestellt
Wie ein Hase auf dem Feld
Werft den ersten und den letzten Stein
Oder ladet ihn in eure Zwinger ein
als Menschensohn
Und singt: Das kommt davon, tja, das kommt davon
Tja, das kommt davon!
 
Auf dem Marktplatz von Antwerpen
Dort wird morgen in der Herrgottsfrüh
Ein Mensch versteigert
Ein etwa 60jähriger Mensch
Mit dem Aussehn eines Knaben
Und die Frage lautet: Wer von Euch
Wer von Euch will ihn haben
Will ihn haben?



Hanns Dieter Hüsch
1976
 
 
© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Den möcht´ ich seh´n..."
in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung