„Er ist verrückt, das ist alles.“

„Mein Freund Harvey“ von Mary Chase - Eine Komödie über die Psychoanalyse

von Frank Becker

„Er ist verrückt, das ist alles.“
 
„Mein Freund Harvey“ von Mary Chase
Eine Komödie über die Psychoanalyse

 
Das Falsche ist oft die Wahrheit, die auf dem Kopf steht.
(Sigmund Freud)
 
 
Inszenierung: Gert Becker – Ausstattung: Elke König – Dramaturgie: Christian Scholze - Fotos: Volker Beushausen
Besetzung
: Elwood P. Dowd: Berthold Schirm - Ruth Kelly, Oberschwester in Dr. Chumleys Sanatorium: Julia Gutjahr - Veta Louise Simmons, seine verwitwete Schwester: Vesna Buljevic - Myrtle Mae, deren Tochter: Sophie Schmidt - Omar Gaffney, Anwalt der Familie Dowd: Francesco Russo - Dr. William R. Chumley, Psychiater: Guido Thurk - Betty Chumley, seine Frau / Mrs. Ethel Chauvenet / E. J. Lofgreen, Taxi-Chauffeur: Gabriele Brüning - Dr. Lyman Sanderson, Psychiater: Roni Merza - Marvin Wilson, Angestellter des Sanatoriums: Bülent Özdil
 
„Er ist verrückt, das ist alles.“ Wenn es so einfach wäre, wie es Elwood P. Dowds Nichte Myrtle Mae es auf den Punkt zu bringen versucht, wäre „Mein Freund Harvey“ von Mary Chase ein kurzes, tragisches Stück. Ein Mann wird seit Jahren von einem unsichtbaren, großen weißen Hasen (2 Meter plus Ohren) begleitet und teilt den Alltag mit ihm - Diagnose: Wahnvorstellungen, Maßnahmen: Klapsmühle, Zwangsjacke, Eisbäder. Schrecklich.
Doch Mary Chase hat mit ihrer ab 1943 am Broadway 1775mal en suite aufgeführten und 1950 mit James Stewart Maßstäbe setzend verfilmten Gesellschaftskomödie über die Psychoanalyse eine wunderbare Parabel zu der Frage geschaffen, wer denn nun verrückt sei: Elwood P. Dowd (Berthold Schirm), das medizinische Personal der Irrenanstalt, pardon, des Sanatoriums oder gar wir, die Zuschauer? Gert Becker hat mit dem Ensemble des Westfälischen Landestheaters Castrop-Rauxel auf der wunderbaren wolkig-violetten Bühne von Elke König (die auch für die kongenialen Garderoben zeichnet) eine äußerst kurzweilige Inszenierung auf die Beine gestellt, welche der Intention der Autorin folgend das Spiel zwischen Wahn und Wirklichkeit mit weiser Komik betreibt.


Berthold Schirm als Elwood P. Dowd - Foto © Volker Beushausen

„Das Maß von unbefriedigter Libido, das die Menschen im Durchschnitt auf sich nehmen können, ist begrenzt.“ (Sigmund Freud)
 
Man spürt stets – gelegentlich sieht man ihn auch im Hintergrund – Sigmund Freud im Raum, und sein Satz: „Das Falsche ist oft die Wahrheit, die auf dem Kopf steht“, wird spürbar. Vor seinem Bild entwickelt sich in den absurden Dialogen, die Mary Chase ihren Figuren auf Maß geschneidert hat und die von Gert Becker glänzend inszeniert wurden, ein köstliches Spiel mit Klischees, die mit Genuß ausgeschlachtet werden. Da ist das verklemmte, nach Sex lechzende Vorstadt-Girl Myrtle Mae (Sophie Schmidt), agieren die psychiatrieverdächtigen Psychiater Dr. Sanderson (Roni Merza) und Dr. Chumley (Guido Thurk) als Götter in Weiß, baggert der notgeile Sanatoriumshelfer Wilson (Bülent Özdil), und verzweifelt die societysüchtige Mrs. Simmons (Vesna Buljevic). Gabriele Brüning agiert gleich in vier Rollen, bei denen sie besonders als Betty Chumley Akzente setzt. Sie führen uns eine Gesellschaft vor, die natürlich in jeder scheinbaren Abweichung von der Norm eine Gefahr sehen muß. Daß Mary Chase auch ganz nebenbei im Plauderton Albert Einsteins Relativitätstheorie bemüht, sei ebenso ganz am Rande vermerkt.
 
An der Frauenbrust treffen sich Liebe und Hunger. (Sigmund Freud)
Julia Gutjahr in einer Paraderolle
 
Die zauberhafte Julia Gutjahr nimmt als auf High-Heels stöckelnd hüftenschwingende Betty, der stets

Julia Gutjahr als Nurse Betty - Foto © Volker Beushausen
im rechten Augenblick der obere Knopf des spacken Kittelchens aufspringt, dank ihrer pikanten Karikatur auf die Karikatur einer sexy Krankenschwester eine besondere Position ein, die nahezu dem wunderbaren Berthold Schirm den Rang abläuft. Sympathisch süß gestrickt entzieht sie sich, den Blick auf die Liebe(n)swürdigkeit ihrer Mitmenschen gerichtet, der allgemeinen Hysterie. Auch hier wird Freud trefflich umgesetzt: „An der Frauenbrust treffen sich Liebe und Hunger.“ Hinreißend. Und die Herren im Publikum beneiden Dr. Sanders.
 
Das Falsche ist oft die Wahrheit, die auf dem Kopf steht. (Sigmund Freud)
Berthold Schirm als „sanfter Irrer“
 
Berthold Schirm weiß als spleeniger „sanfter Irrer“ Elwood im weichen Tweed-Anzug, ein Mann ohne Arg, der en passant Ovid zitiert, davon zu überzeugen, daß es eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit gibt, was Star-Psychiater Chumley schließlich zu der umkehrenden Einsicht bringt: „Fliegendreck, ich verbringe mein Leben mit Fliegendreck!“.
Denn: „Auch der psychiatrische Wahn enthält ein Stückchen Wahrheit, und die Überzeugung des Kranken greift von dieser Wahrheit aus auf die wahnhafte Umhüllung über.“ (Sigmund Freud) Ein großartiges Stück, ein großartiger Abend.
 
Weitere Informationen: westfaelisches-landestheater.de