Nun ist der Schuhu in der Welt

Erwin Grosche empfing als erster den neuen Literaturpreis

von Frank Becker und Michael Kienecker

Plastik Bernd Bergkemper - Foto © Frank Becker

Nun ist der Schuhu in der Welt

Am 15. September wurde Erwin Grosche
der Peter-Hille-Literaturpreis verliehen


Mit einer höchst amüsanten und Hille-würdigen Präsentation seines aktuellen Programms (Zuhörerwünsche aus älteren Programmen eingeschlossen) belegte Erwin Grosche vor fröstelndem Publikum am vergangenen Samstag in der zugigen Scheune des "KulturGut Holzhausen" des Freiherrn von der Borch eindrücklich, daß er der einzig richtige erste Empfänger dieser wertvollen Literatur- Auszeichnung ist.

Abnehmen mit Würde!

So kann man mißverstanden werden: Erwin Grosche hat en passant geäußert, er würde gerne abnehmen. Schon schickt ihn seine (literarische - die echte täte das nie!) Frau in einen VHS-Kurs "Abnehmen mit Würde". Aber beidem Wort "Würde" sind wir schon ganz richtig, denn Erwin Grosche hält es mit diesem ehrenvollen Begriff. Wieviel Respekt gehört doch dazu, dem Knäckebrot unter heftiger Ablehnung von handelsüblichen Frischhaltedosen das Recht einzuräumen, würdevoll seine Knusprigkeit zu verlieren! Abnehmen durch Sport, schön und gut. Aber ein Mann, der viel Fernsehen schaut, Bier trinkt und raucht, wann soll der denn noch Sport treiben. Nein, so geht es nicht. Eine Fahrradtour macht dieser Mann nur, um eine Stelle zu finden, wo er rauchen kann.

Frikadellen-Philosophie


Eine Frikadelle, konstatiert Erwin Grosche, gehört nicht auf einen großen, glänzenden Teller mit allerlei Beiwerk und  gedecktem Tisch. Eine Frikadelle fühlt sich am wohlsten auf einem Pappteller, mit einem Haufen Senf daneben, der so aussieht, als habe sie ihn selbst dahin geschissen. Ja, so muß das sein, weiß der Kenner der Bas cuisine. Auch die Erkenntnis, was das Nichts sei, wurzelt in dieser Frikadellen-Philosophie: "Vor dem Genuß einer Zucchini dachte ich zu wissen, was das Nichts ist. Als ich sie aß, wurde mir klar - so verkleidet sich das Nichts - als Zucchini".
 
Foto © Frank Becker

Wem wäre schon aufgefallen, daß Kondome ein Haltbarkeitsdatum haben? Erwin Grosche hat und empfindet als unerhörten Leistungsdruck. Ob er solche grundsätzlichen Themen des Lebens aufgreift, elementare und tiefschürfende Feststellungen trifft wie "Finden sie nicht auch, daß im Nachhinein die Zukunft sehr vorhersehbar war?", das Lob des Spülens als auch innere Reinigung singt: "Den Spülenden behütet Gott. Kein Feind stört ihn bei der Arbeit. Kein Mörder kommt und trocknet ab. Hinter seinem Rücken drückt sich der Krieg wie Falschgeld herum und hofft, er muß nicht helfen.", oder ob er ein "Nachbarschaftslied, morgens um 3 auf dem Balkon zu singen" anstimmt, Erwin Grosche ist immer ein bißchen dichter am Leben als andere, sie zum Beispiel oder ich...

Wörter vor Winterlandschaft

"Ich hätte ihr gerne noch etwas ausgezogen, aber sie war schon nackt". Solche und andere ebenso knappe wie amüsante Feststellungen bekommt man nur einmal: "Überhaupt, ein Abenteurer, der dauernd überlebt, macht der nicht irgendetwas falsch oder riskiert einfach zu wenig?" Kaum
 
Wörter vor Winterlandschaft - Foto © Frank Becker
vorgelesen, werden sie vom Aktenwolf in feine Streifen zerlegt. "Ein Computer ist schon wichtig, Klopapier ist wichtiger." Da können sie nicht gegenhalten.
Erwin Grosche überzeugt. Am (kleinen) Akkordeon, am (kleinen) Klavier, an den Nudeltüten und Aschenbechern, mit Elektrozahnbürsten, Klangschalen und Spannbettüchern. Die "Omiii"-Zugabe gehört zu seinem unveräußerlichen Unfug, sie war dabei. Und hätte die Jury, die ihm als erstem Preisträger den "Peter-Hille- Literaturpreis. Nieheimer Schuhu" zu gesprochen hat, das bis dahin

Omiii - Foto © Frank Becker
noch nicht getan - am 15. September wären die Wüfel schließlich überzeugend für Erwin Grosche gefallen. Auszüge aus der Laudatio von Dr. Michael Kienecker lesen sie bitte im Folgenden.


Aus der Laudatio für Erwin Grosche:

Als 1901 Ernst von Wolzogen, Max Reinhardt, Friedrich Kaysler und andere die ersten Kabaretts in Berlin eröffnen, boomt die Bewegung gleich ganz ungeheuer. Mit Begeisterung ist Peter Hille von Anfang an dabei. In einem frühen, bereits 1902 geschriebenen Essay mit dem Titel „Die Aufgaben des Überbrettls“ versucht Peter Hille, Eigenart und künftige Zielsetzung dieser neuen Kunstform zu beschreiben: „Wie im alten Hellas die Gestaltung des Volksgeistes von der Bühne ausging, so wohnt im Überbrettl mehr Weihe als manch einer sich träumen läßt.

War bislang die Aufführung dieser neuen Kunstweise sehr profan und obenhin, der tiefste Sinn dieser großen Sache der Kleinkunst ist auch noch nicht einmal angerührt. Hier wie nirgends ist es das Naturell, die Individualität der Darsteller, die im Verein mit möglichst unbefangen und tief streifendem Weltrausch der Worte und Weisen auf diesem Gebiete gestaltet.“
Haben Sie es gehört? Da ist bei Peter Hille schon 1902 das Wort „Kleinkunst“ gefallen, das Wort, mit dem Erwin Grosche seine literarische und künstlerische Tätigkeit am liebsten beschrieben sieht. Und in der Kleinkunst ist es das Naturell, die Individualität des Darstellers, gepaart mit tief streifendem Weltrausch, das die Zuschauer bannt und begeistert.

Die westfälische Region ist nicht eben reich an Literaturpreisen, die der Förderung lebender westfälischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller dienen. Daher ist es mir als dem Vorsitzenden der Peter-Hille-Gesellschaft eine ganz besondere Freude, daß es gelungen ist, einen Peter-Hille-Literaturpreis aus der Taufe zu heben, der von der Hille-Gesellschaft in Verbindung mit der Stadt Nieheim alle drei Jahre vergeben werden soll.

 
Laudator Michael Kienecker - Foto © Frank Becker
 Zweifellos gehört Peter Hille zu den markanten und wichtigen Gestalten der westfälischen Literaturgeschichte: In der Reichshauptstadt Berlin war er um 1900 in den sich bildenden Künstlergemeinschaften ein bekannter Schriftsteller, der der neuen und jungen Literatengeneration wichtige Impulse gab. Hille war zu seiner Zeit ein durchaus moderner, wichtiger Anreger, eine Funktion, die in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft immer stärker wahrgenommen und angemessen gewürdigt wird.

Die Geburt des Schuhu

Gerade auch in der in Berlin um 1901 rasant wachsenden Kabarett- und Kleinkunstszene spielte Hille eine wichtige Rolle: Zunächst nur als Teilnehmer an verschiedenen Kabarettunternehmungen, hatte er schließlich sein eigenes „Cabaret zum Peter Hille“ in Dalbellis Weinstube, wo neben ihm auch junge Schriftsteller wie Else Lasker-Schüler, Richard Dehmel, Erich Mühsam und viele andere vortrugen. Ein Zyklus mit dem Titel „Lieder des betrunkenen Schuhus“ verfaßte Hille eigens für solche launigen Kabarettabende, und dieser Schuhu, ein mythischer Eulenvogel, ist der Namensgeber unseres Literaturpreises: Der Nieheimer Schuhu.
Erwin Grosche hat sich bei den Beratungen der Jury sehr schnell als der geradezu prädestinierte erste Preisträger des Hille-Literaturpreises herausgestellt: Hille selbst war vor allem ein Meister der literarischen Kurzformen, der poetischen Miniaturen vor allem im Gedicht, im Aphorismus und in beeindruckender Kurzprosa: Er formuliert einmal: „Die wichtigsten Sachen müssen leicht, die kleinen wichtig abgehandelt werden.

Hille, der sich – auch aus tiefer Gottgläubigkeit – trotz mancher Widerwärtigkeiten seines äußeren, materiellen Lebens als literarischer Humorist verstand, der sub specie aeternitatis, also unter dem Blickwinkel der Ewigkeit, alles Leid für überwindbar hielt durch innere Heiterkeit, fühlte sich

 
Foto © Frank Becker
insbesondere mit den Kindern verbunden, weil diesen dieser heitere, noch unverbrauchte und nicht reglementierte „innere Lebenssinn“ eignet, den er auch für sich und seine Kunst beanspruchte.
Erwin Grosche hat insbesondere in den letzten Jahren zahlreiche Kinderbücher geschrieben und präsentiert sich uns auf der Bühne und in seinen Büchern als ein kindlicher Weiser oder ein weises Kind – Bezeichnungen, die viele Zeitgenossen für Peter Hille geprägt haben.

Ausgezeichnet

Erwin Grosche ist von Dortmund bis Höxter, Meschede bis Bielefeld, aber seit vielen Jahren auch längst bundesweit auf Bühnen, im Hörfunk und im Fernsehen höchst präsent: Sein Werk umfaßt mittlerweile fast 20 verschiedene Kleinkunst-Programme seit 1979, weit über 50 Bücher, 40 Langspiel- und CD-Produktionen, Mitwirkung bei 35 Film- und Fernsehproduktionen, darüber hinaus 2 eigene Filme. Und an Preisen mangelt es wahrhaftig nicht: Er wurde bereits mit 13 Preisen

 
Foto © Frank Becker
ausgezeichnet, darunter so renommierte wie der Deutsche Kleinkunstpreis, der Prix Pantheon und der Paderborner Kulturpreis für das Gesamtwerk.

Es gibt einen wunderbaren Aphorismus Hilles, den scheint er geradezu für Erwin Grosche niedergeschrieben zu haben: Er ist gelassen, schlau und gut: Ein Aristokrat des Gewöhnlichen.
Ein Aristokrat des Gewöhnlichen: Treffender – so meine ich – kann Erwin Grosches auf die Poesie des Alltäglichen zielende Klein-Kunst nicht bezeichnet werden, und darum ist es nach so viel erwiesener literarischer Wahlverwandtschaft zu Peter Hille der Hille-Gesellschaft und der Stadt Nieheim eine besondere Freude, aber auch Ehre, ihn als ersten Preisträger heute mit dem „Nieheimer Schuhu. Peter Hille-Literaturpreis“ auszeichnen zu können!


Die Jury des Peter-Hille-Literaturpreises begründet:


Ausklang - Foto © Frank Becker

Peter Hille war ein Meister spontaner Sprachkunst und schrieb bevorzugt Aphorismen, Gedichte und Kurzprosa. Auch der Grenzgänger Erwin Grosche ist ein ungewöhnlicher „Wortkünstler“. Als Autor hat er ein umfangreiches Werk vorgelegt, das nahezu alle Sparten der Literatur umfaßt, vom Roman über Erzählungen, Krimis, Glossen, Lyrik, Songs und Chansons bis hin zum Kindergebet. Dieses Werk zeichnet sich durch eine eigene, unverwechselbare Sprache aus. Grosche ist ein Mann der Zwischentöne. Entsprechend geht es in seinen Texten phantasievoll statt polemisch, poetisch statt plakativ zu. Als literarischer Kleinkünstler und Kabarettist, der sich ausdrücklich zu seiner westfälischen Herkunft bekennt, kultiviert er einen anderen, oft skurril-hintergründigen Blick auf die Wirklichkeit.


Text redaktionell bearbeitet und schamlos gekürzt von Frank Becker