Es naht das Meer, es nahn die Geusen

von Karl Otto Mühl
Es naht das Meer, es nahn die Geusen
 
Plötzlich tickt die Uhr sehr laut. Es liegt daran, daß ich still da sitze, in den nebeligen Abend hinausblicke und nichts weiter denke, um die Erinnerungen an die Holländer wach werden zu lassen, die vor fast einem halben Jahrhundert unsere kleine Firma, ein Handelshaus, übernahmen. Wenn man gerne an etwas denkt, ist auch immer etwas Traurigkeit dabei.
 
Das Neue fing damals für mich damit an, daß mich der Geschäftsführer rufen ließ, mir den Platz vor seinem Schreibtisch und eine Zigarette anbot. Er selbst rauchte wie ein Schlot, nämlich etwa fünfzig Zigaretten pro Tag. Er war nicht einmal ein nervöser Raucher, nein, er sprach leise, ruhig, lächelnd.
An ihm sah ich, daß es offenbar gelassene Raucher gab. Mehrmals im Monat ging er mit seiner Frau zu Proben mit einem Chor, der anspruchsvolle Konzerte gab. Beim Konzert standen sie auf der Bühne, sangen hingebungsvoll und hingerissen. Von solchen Menschen konnte man nur Gutes erwarten.
Er schien angetreten zu sein, um der Welt zu beweisen, daß es gütige und doch sehr befähigte Chefs gab, und er hätte es zu geschafft – wenn da nicht vermummt im Hintergrund eine gemeine Krankheit gelauert hätte, die bald darauf begann, an seiner Lunge zu fressen.
 
Was wir besprachen, würde nur Insider interessieren – ob wir Gewindeschneider für Rohre ins Programm nehmen sollten, ob wir Hirschmann als Service-Monteur einstellen sollten, obwohl er schon über Fünfzig war, undsoweiter.
Aber am Ende des Gesprächs: „Und was ich Ihnen noch sagen wollte – es ändert sich nichts für Sie. Auch nicht für die anderen. Eigentlich für niemand.“
Ich blickte ihn alarmiert an.
„Wir werden von einem Konzern übernommen, einem holländischen, dem Merlin-Konzern. Wie gesagt, nichts ändert sich. Ich muß nur einmal jeden Monat zur Berichterstattung nach Rotterdam.“
„Also alles wie bisher?“
„Alles wie bisher“, antwortete er lächelnd. „Und wir beide arbeiten weiter zusammen, wie wir es kennen.“ Der Mann war im Krieg Hauptmann, dachte ich. Wie brachten es die Feinde nur fertig, auf solche Menschen zu schießen?
 
Jetzt bin ich wieder in meinem Arbeitszimmer und erinnere mich, daß ich damals wahrscheinlich überhaupt keinen Holländer kannte. Die Holländer leben am Meer und essen viele Matjes-Heringe. Richtig, wir waren einmal am Meer bei Nordwijkerhout und aßen Matjes. Aber wir hatten keine Gelegenheit, länger mit einem Holländer zu sprechen.
Und als Zwölfjährige in braunen Uniformen sangen wir
 
- es naht das Meer;
es nahn die Geusen.
Das Land wird Meer,
doch es wird frei.
 
Damit verband ich das Bild von hölzernen Schiffen und wilden Gesichtern, von Wellen-Gischt und von Freiheit, die sie hier schon wollten, bevor Hitler sie endgültig durchsetzen konnte, würde mein Cousin sagen. Das war seine Meinung. Er kam auf dem Rückzug in Rumänien um.
 
Ich klicke im PC die „Geusen“ an. Ich will nach fünfzig Jahren endlich genauer wissen, was die gemacht haben. Mann, achtzig Jahre Freiheitskrieg! Und Massaker, viele Tote. Graf Egmont, der vor dem Richtblock unruhig hin und her geht und auf Begnadigung durch den spanischen König wartet. Das habe ich mir seitdem oft erschauernd vorgestellt.
 
Es kamen die ersten von denen aus Rotterdam zu uns in die Firma, schlanke, ruhige Männer, fast immer ein Notizbuch in der Hand. Sie hießen Harry Brouwer, Kees Schoemaker, Hub van der Vliet, Ruud van Abelen. Man hörte es an den Namen, kernige, sicherlich sehr einfache Menschen, die von uns lernen wollten. Denn die Technik, die hätten überwiegend die Deutschen erfunden, sagte mein Cousin immer.
Meine Meinung wurde mehr und mehr bestätigt. Sie schienen fast nichts zu wissen, hörten immer nur zu, waren erstaunt, begeistert, beruhigt. Aber sie schienen wenigstens lernfähig zu sein, denn sie machten sich viele Notizen. Und sie waren nicht mehr so wild, wie es die Geusen doch wohl waren, sie waren bescheiden und, wie bereits gesagt, immer sehr ruhig. Nie hoben sie die Stimme. Sie hatten einfach gemerkt, daß sie bei uns nicht mehr so viel ausrichten konnten wie die Geusen, denke ich.
 
Einiges wußten sie doch schon, diese einfachen Menschen. Zum Beispiel: Am ersten Besuchsabend waren sie beim Chef eingeladen – ich durfte auch kommen -, und Kees brachte tatsächlich einen großen Blumenstrauß für die Frau des Chefs mit. Jemand mußte ihm einen Hinweis gegeben haben.
Während der ganzen Zeit ihres Informationsbesuches erwähnten diese Holländer nie den Krieg, der vor mehr als fünfzehn Jahren zu Ende gegangen war. Da sollte es ja zu Übergriffen von Seiten der Deutschen gekommen sein, ja, zu Deportationen von Juden. Mit Recht erwähnten die Gäste das nie. War ja auch richtig, wir waren es schließlich nicht gewesen, das waren die anderen, die vor uns, sagten viele, und da auch nur die echten Nazis. Nein, das sollte vergessen sein.
 
Die Holländer hatten natürlich auch einige gute Seiten, wenn auch vermutlich wenige. Da wir eine kleine Firma waren, luden sie die ganze Belegschaft vollzählig nach Rotterdam ein. Sie führten uns durch die riesige Anlage ihres Konzerns, durch Werks- oder Lagerstraßen zwischen gewaltigen Gebäudekomplexen, sie aßen mit uns zu Mittag und hatten für uns eine Hafen-Rundfahrt arrangiert. Da sah man nichts als Masten.
Das alles fand ich sehr erstaunlich. Sie hatten unter anderem sogar eine Leasing-Firma für Flugzeuge. Der Chefverkäufer war dort ein ehemaliger britischer Bomber-Pilot. Auch von England holten sie also ihre Fachleute; das sah man daran. So hatten sie ihre Fähigkeiten erweitern müssen. Vielleicht kannten sie früher überhaupt wenig mehr als Matjes-Heringe.
Durch den Krieg mußten sie viel gelernt haben, den Krieg, der ja vielleicht doch der Vater aller Dinge ist, sagte mein Cousin immer. Alles sehr merkwürdig, wo sie sich doch eigentlich immer nur mit Heringen beschäftigt hatten. Der oberste Direktor, Herr Muller, kannte mich sogar mit Namen. Ich war nicht sicher, ob das gut für mich war.
 
Für die Holländer waren wir sicher gut. Ich nahm an, daß sie nach und nach durch uns in Deutschland bekannt werden wollten. Wir waren zwar nur dreißig Leute in unserer Firma, aber das war schließlich nur der Anfang, Größeres würde folgen. Sie mußten irgendwie erfahren haben, wie groß das vertriebstechnische Potential war, das wir in uns spürten. Nicht auf ewig würden wir in unserem Programm hauptsächlich Schmirgelscheiben und exotische Aschenbecher führen, nein, den Gabelstaplern unserer neuen Konzernmutter würden einst größere Dinge folgen, darunter selbstverständlich auch Flugzeuge. Sie würden natürlich auf uns und unsere Verbindungen angewiesen sein. Mit einem einzigen Bomberpiloten, und dazu noch einem englischen, war da nicht viel zu schaffen.
 
Am Abend eines Rotterdam-Tages waren mein Chef und ich bei Kees zuhause eingeladen. Frau Mareijke bewirtete uns, eine wache, freundliche Frau, das muß ich zugeben, so richtig vernünftig, wie die Holländerinnen eben sind. Ich muß sagen, für meinen Geschmack war sie etwas zu rotbackig und zu blond. Einmal bückte sich Kees und hob ein winziges Fadenende vom Teppich auf. Er trug es zum Papierkorb und wusch sich die Hände. Reinlich waren sie ja, diese Holländer. Aber das Fadenende war höchstens einen Zentimeter lang.
 
Wieder daheim, wurden wir von den Holländern mit den Maschinen vertraut gemacht, die wir in Deutschland vertreiben sollten. Ein wichtiges Produkt waren die Gabelstapler. Wir fuhren sie auf Lastwagen mit hydraulischer Auflade-Vorrichtung durchs Land und führten sie bei Firmen vor.
Wir hatten auch hübsche Mädchen in der Firma, aber auf diesem Gebiet schienen die Holländer nicht interessiert zu sein. Das hing vielleicht damit zusammen, daß sie daheim keine Vorhänge vor den Fenstern hatten. Die Sache mit Mädchen selbst war ja auch meistens unproduktiv, dachten sie vielleicht. So sind sie eben, diese Holländer.
Nur, auch bei uns Alteingesessenen lief da nicht viel. Vielleicht waren wir unter dem Chef zu freundlich zueinander geworden. Das soll ja in gewisser Weise hinderlich sein, meinen manche Sexualpsychologen.
 
Von den Holländern kümmerte sich ein Ruud van Abelen am intensivsten um unsere Service-Werkstatt. Er war auch häufig bei Vorführungen von Geräten dabei. Als ein neuer Elektro-Stapler eintraf, sollte er als erstes in einem Lebensmittellager am Niederrhein vorgeführt werden. Es sollte ein großes Geschäft werden, und ich glaube, Ruud wollte es allein abschließen. Nun ja, er kannte das Ding ja bereits.
Auch die Vorführung machte Ruud. Der Monteur, der dabei war, kannte den Stapler freilich so wenig wie ich.
Maschinen vorführen ist eine angenehme Arbeit. Man zeigt, was man schon kann, weiß mehr als der Kunde, gibt Rat und Auskunft, und erntet Dankbarkeit dafür. Man fährt einmal da herum, dann dort, läßt sich bitten, auch in der Halle vorzuführen; die Dankbarkeit wächst; man beantwortet weitere Fragen und weiß immer noch alles besser.
Der Betriebsleiter des Lagers, die Monteure, der Platzmeister, Fahrer und Neugierige sahen zu, wie Ruud auf die Rampe der Verladehalle fuhr. Dort zeigte er einige Kunststücke - so einfach ließ man den Stapler vor- und rückwärtsfahren, nur mit dem Spiel des Handschalters! Und nun stand das Fahrzeug! Es hatte nämlich eine Totmannbremse; man konnte einfach herunterspringen, brauchte nicht einmal die Handbremse anzuziehen.
Plötzlich rollte der Stapler rückwärts die Rampe herunter. Mit hochragendem Mast zog er dahin wie eine Fregatte, ein Symbol des Schicksals, ein Weltgericht, das über jedes Verständnis hinausgeht. Vor der Rampe standen zwei Personenwagen. Bei einem wurde die Seite eingedrückt, der andere vorne links gequetscht.
Visiere klappten über die Gesichter unserer Kunden. Es gab nichts mehr zu sagen. Ruud umkreiste den zerkratzten Stapler und die verbeulten Autos wie ein Tier, das seinem Tod durch Rundlaufen entfliehen will.
 
Am nächsten Tag erschien er nicht in der Firma. Kees erklärte mir, daß er sich in Rotterdam melden mußte. –
„Aber gleich versetzen?“ fragte ich empört.
Nun, er habe schon vorher Fehler gemacht. Man mache bei ihnen nicht lange Vorwürfe, man sehe sich alles eine Zeit lang an, und würde dann entscheiden. Wie in diesem Falle.
„Dann ist es bei euch ja genau wie hier bei uns“, sagte ich schadenfroh.
„Genau so“, antwortete Kees. „Geschäft ist Geschäft.“
 
Irgendwie nahm ich das den Holländern übel. Schließlich redeten sich alle mit Vornamen an. Und nun dies!
Sicher, es gab auch Unterschiede. Wenn es irgendwelchen Holländern schlecht ging, dann wurde vielleicht gesagt: Der Willem und der Jan kommen nicht gut zurecht. Oder die, die diese oder jene Arbeit machen. Da müssen wir uns kümmern.
Bei uns wäre das klarer: Da würde irgendwo geschrieben: Mit dieser Bevölkerungsgruppe muß auf Augenhöhe kommuniziert werden, man muß sie dort abholen, wo sie sind –
Oder so ähnlich, denke ich.
 
Als mein Chef ins Krankenhaus mußte, die Holländer redeten ihn mit „Benni“ an, kam Direktor Muller aus Rotterdam an und besuchte ihn; Kees war häufig bei ihm, sogar Ruud durfte extra anreisen. Die Holländer fanden heraus, daß es ein japanisches Medikament gab, angeblich ein Wundermittel, das hier in Deutschland einmal gegen Hodenkrebs eingesetzt worden war. Man erfuhr sogar, wer der Patient war.
Meine Aufgabe während der nächsten Tage war, durch das Oberbergische zu fahren, um diesen Patienten zu finden. Ich fand seine Eltern, Landwirte. Sie wohnten in einem Fachwerkhaus. Der Patient, ihr Sohn, war verstorben. Die Flasche mit dem Medikament, ja, die stand noch da. Ich könne sie haben.
Ich schaukelte mit meinem Wagen durch das hügelige Land zurück zur Firma. Die Ärzte im Krankenhaus nahmen das Medikament geduldig lächelnd in Empfang, versprachen auch, notfalls Nachschub zu besorgen. Danach war nie mehr davon die Rede.
Ich war täglich im Krankenhaus und berichtete dem Chef über die Verkäufe. Je weiter die Krankheit fortschritt, desto fröhlicher erschien er mir. Ich glaube, seine Frau hatte mit den Ärzten geredet und erreicht, daß sie nur von einer Lungenlappenentzündung sprachen und fleißig Schmerzmittel spritzten.
Er wollte immer genau wissen, wie es mir ging, was mit der Familie war, ob ich zufrieden sei. Ich will es einmal so sagen, Liebeserklärungen gab es nicht bei uns. Schließlich waren wir Soldaten gewesen, und der liebe Gott, der ins Herz blickt, wußte vielleicht, daß der Chef insgeheim auch ein Kommisskopp war. Sonst wäre er vielleicht nicht so ordentlich und clever gewesen. Schließlich hatte er uns die Holländer besorgt, die wir natürlich noch zurecht biegen mußten.
 
Den Chef haben wir bald darauf beerdigt. Viele Holländer waren zu der Trauerfeier gekommen. Direktor Muller kam, und sogar Ruud durfte wieder kommen. Ich muß zugeben, in dieser Angelegenheit haben sich die Jungs ganz ordentlich verhalten.
 
Der Himmel ist bleifarben und düster geworden. Ich höre hier für heute auf. Für den Abend hat sich Besuch bei mir zuhause angemeldet. Kees kommt aus Rotterdam. Er ist inzwischen auch pensioniert. Ab und zu will er sein großgewordenes Patenkind, unsere Joke, wiedersehen. Um die kümmert er sich eben sehr. Manchmal hat ein Holländer richtig gute Züge.
 
 

© 2013 Karl Otto Mühl
Redaktion: Frank Becker