Andreas Greve - Foto © Weychardt |
Vermischte (norddeutsche) Notizen
nach und beim Lesen verschiedener Bücher
Nachlese von Andreas Greve
Künstler als „Vorturner des Scheiterns“
oder
Risikoberuf Lyriker
Derzeit lese ich in Rühmkorfs Texten zur Poetik Sätze wie diese: „die Angst- und Zwangsanfechtungen einer zur Normalität verdonnerten Ausnahmenatur.“ Oder den Beitrag zur „Einfallskunde“. Da steht
natürlich noch erheblich mehr und ich bin hin- und hergerissen, ob ich diesen Band seiner Gesammelten Werke in einem Rutsch lese, oder mir lieber etwas für den nächsten Winter aufspare. Einige Essays aus diesem „Schachtelhalme“ betitelten Band drei der Gesamtausgabe kenne ich, weil Peter Rühmkorf in seinen einzelnen, über die Jahre erschienen, Gedichtbändchen gerne einen betrachtenden Text mit einfließen ließ (einen Fließtext eben). In „Haltbar bis 1999“ etwa war es, ööh…. da müßte ich jetzt nachgucken und das möchte ich nicht, denn dann würde ich mich schon wieder festlesen… Nein, lieber erst mal hier weiterschreiben:
+Peter Rühmkorf, „Schachtelhalme“ – Schriften zur Poetik und Literatur (Sachbuch) © 2001, Rowohlt, 412 Seiten, gebunden, 24,90 €
Ein etwas anderes Buch über das Lyrikmachen habe ich letztes Jahr nach einem samstäglichen
Spontankauf an einem Wochenende in einem Zug gelesen. Für mich war das Thema sowieso schon spannend, aber überdies war es derart arroganzfrei geschrieben und das Handwerk des Poeten - respektive die Dichtkunst - vom Lyriker Norbert Hummelt so wunderbar uneitel dargestellt. Hummelt bestreitet exakt die erste Hälfte dieses Buches, während im zweiten Teil sein Lektor Klaus Siblewski das Wort hat. Beide kommen ganz ohne pseudokulturelle Bugwelle aus, und Siblewski würde man sich als rücksichtsvollen, hochengagierten und qualifizierten Partner auf der Verlagsseite am liebsten zum nächsten Geburtstag wünschen. Ich denke, dieses Lyrik-Sachbuch ist auch für jeden interessierten Laien erhellend, weil auch Fragen beantwortet werden, die zu stellen sich mancher in der Öffentlichkeit zieren würde, um dem Verdacht von Banalität und Einfalt aus dem Wege zu gehen.
+Norbert Hummelt / Klaus Siblewski, „Wie Gedichte entstehen“ (Sachbuch),
© 2009 Sammlung Luchterhand, 272 Seiten, Taschenbuchoriginalausgabe, 9,- €
Für alle jene, die zunächst die Grundbegriffe und Hauptanliegen der Lyrik etwas systematischer auf die Reihe bekommen wollen, gibt es vom bekannten Literatur-Kritiker „Ulrich Greiners Lyrikverführer“,
erschienen bei C.H. Beck. Der ehemalige Ressortchef der „Zeit“ ist sicher noch ein wenig vom Narrativen seines Geschäfts geprägt, wenn er in dieser „Gebrauchsanleitung zum Lesen von Gedichten“ im ersten Teil „Was ist ein Gedicht?“ unter seinen sieben Kriterien zuerst ausgerechnet „Das Gedicht ist eine Erzählung“ anführt. Das gilt wohl für Wilhelm Busch oder – sagen wir lieber – Schiller, aber ist es mindestens seit Kriegsende – oft zum Kummer der Leser – nicht ein eher nachgeordnetes Kriterium? Sei´s drum - nun können wir auch gleich alle Punkte aufzählen: Das Gedicht ist ein Lied. … ein Gefühl. … eine Idee. Das Gedicht ist ein Form, ein Rätsel, ein Spiel. In Echtzeit braucht Greiner für diesen Teil 140 Seiten, jeder der Aspekte wird also ausführlich behandelt. Im zweiten Teil folgen elf Interpretationen. Die Gedichte dort spannen von Friedrich Hölderlins „Sommer“ bis zu Hellmuth Opitz, zu (sic!) Norbert Hummelt und zu Nadja Küchenmeister.
+Ulrich Greiner „Ulrich Greiners Lyrikverführer" – Eine Gebrauchsanweisung zum Lesen von Gedichten“ (Sachbuch)
© 2009, C.H. Beck, 224 Seiten, gebunden, 17,40 €
Opitz, Hummelt und Küchenmeister fand ich auch in einem ganz anderen Band wieder, den ich zufällig in einer Buchhandlung sah. Daß ich ihn überhaupt in die Hand nahm, war kein Zufall, weil es sich um ein wunderbar handliches Bändchen (von Reclam / Hardcover) und um Lyrik handelte: „Ein Gedicht von mir – Lyrikerinnen und Lyriker der Gegenwart stellen sich vor“. Absicht und Verfahren
werden hinten weiter ausgeführt: „… und suchen eigenhändig ein Gedicht aus ihrem Werk als eine lyrische Selbstcharakterisierung aus“, wie Herausgeber Dirk von Petersdorff schreibt. Da von Petersdorff die deutsche Lyrik-Szene sehr genau kennt und selber quasi in der Mitte zwischen schwer modern, klassisch und fast schon poppig zu verorten wäre (von mir jedenfalls), hat er erfreulich breit aus-gesucht! Es sind sozusagen alle dabei, auch Borowiak, auch Gsella, auch Holofernes, auch Sven Regener, auch… neben den erwartbaren Größen wie Wolf Wondraschek, Ror Wolf, Albert Ostermaier – nur für Georg Kreisler kam die Anfrage zu spät. 150 Seiten voller Überraschungen und Vergnügen – Guter Lesevorrat für viele U-Bahnfahrten und fast ein Nachschlagwerk.
Überhaupt gefallen Reclams jüngste Hardcover-Versuche. Optisch noch schöner ist da die von Ulla Hahn herausgegebene „Liebesgedichte“-Reihe, die jeweils einem im Schlund der Geschichte zu versinken drohenden (das nenne ich eine gelungene Formulierung!) Dichter wie etwa John Donne oder einer hier nie in allen Landesteilen richtig bekannt gewordene Großdichterin wie Marina Zwetajewa einen Band widmet oder aber auch Baudelaire oder – was sonst! – Rilke, dem aber die Liebe sehr traurig aus der Feder floß. Schöne Geschenkbücher fast geschenkt: 8,80 €. Bei Marina Zwetajewa noch dieser Hinweis von der Reclam-Homepage: Auswahl, Übersetzung und Nachwort: Nitzberg, Alexander 96 S. Geb. mit Prägung, rotes Vorsatzpapier, rotes Lesebändchen Es wurde also an nichts gespart – außer am Preis! Kleine, exklusive Festplatten.
+Dirk von Petersdorff (Hrsg.) „Ein Gedicht von mir“ (Lyrik)
© 2012 Reclam, 160 Seiten, Hardcover, 10 €
Es gibt ganz wunderbare vergessene Dichter. Seit ich selber (mit soliden, aber auch sinnlich-sinnvollen)
Gedichten an die Öffentlichkeit trete und als „Reimer und Rythmiker“ rubriziert werde, fallen häufiger Namen wie Moll oder Blass, Ringelnatz oder Gernhardt. Ich habe niemals etwas von einem Moll gehört. Bis heute nicht. Bis vor Kurzem auch nichts von Ernst Blass – den bekam ich aber jüngst geschenkt und zwar „Sämtliche Gedichte“ aus der Edition Memoria, die Thomas B. Schumann herausgibt. Der Verlagsname ist Programm und der Titel bei dem damals recht erfolgreichen, ersten Gedichtband von Blass entliehen: „Die Straßen komme ich entlang geweht“. Hier sechs Verse eines Sonetts: „Der Dichter sitzt im luftigsten Café, / um sich an Eisschoklade zu erlaben. / Von einem Busen ist er sehr entzückt. / Der Oberkellner denkt hinaus (entrückt) / an Mädchen, Boote, Schilf, … an Schlachtensee. / Der Dichter träumt „ … und wird sie nie haben …“
+Ernst Blass, „Die Straßen komme ich entlang geweht“ – Sämtliche Gedichte“(Lyrik)
© 2009 Edition Memoria, 256 Seiten, broschiert, 26,- €
Und dann ist da von anderer Seite ein Name aufgetaucht, den ich wahrlich hätte kennen müssen,
weil im Nachkriegsdeutschland von seinen „Halunken“-Reimen unglaubliche 300.000 Exemplare verkauft wurden: Fritz Graßhoff. Wenn er schon nicht im Bücherschrank meiner Eltern stand, hätte doch wenigstens meine Tante, die Buchhändlerin war und Anzüglichkeiten sehr zugeneigt, einmal seinen Namen oder den Titel „Halunkenpostille“ fallen lassen müssen. Selbst Rühmkorf führt, soweit mir bekannt, in keinem seiner Texte diesen Namen im Munde, während ihm zum Beispiel der gründerzeitliche Pathet Richard Dehmel aus Blankenese eine ganze Gedichtkritik wert war. Mit der letzten Behauptung wage ich mich vermutlich zu weit vor, denn der Herausgeber des eindrucksvoll dicken Bandes aus der Reihe Arche Paradies ist Joachim Kersten, ein langjähriger Freund Rühmkorfs. Der Anwalt, Autor und Vorleser Kersten weiß allerdings in seinem Nachwort zu berichten, das Graßhoff bei einem Gast-Auftritt in Hamburg von den hier ansässigen Kollegen um Rühmkorf einen sehr arroganten Eindruck gewann. Er mied sowieso weitestgehend den Kunstbetrieb und beugte finanziellem Scheitern klug vor, indem er sein Geld für die Familie immer mit Schlagertexten verdiente.
+Fritz Graßhoff, „Flaschenpost mit Weltgeist – Gedichte in 13 Kapiteln“ (Lyrik)
© 2013 Arche-Paradies, 384 Seiten, gebunden, 22,95 €
Nun noch von diesem derb-deftigen real Vergessenen zu „Drei Verborgenen“, die es nur fiktional an
die Öffentlichkeit geschafft haben, weil sie sich der mittelalte deutsche Lyriker Jan Wagner ausgedacht hat. „Die Eulenhasser in den Hallenhäusern“ heißt sein Buch, das mich u.a. deshalb interessiert, weil ich mir meinerseits vor einigen Jahren einen Poeten, den „Dichter Demel“, ausgedacht habe und über ihn wohl ein paar Dutzend Gedichte gemacht habe - und weitere machen werde. Ja, es gibt Dichter, die gibt es gar nicht. Jan Wagners dreigeteiltes Buch nehme ich mit nach Dänemark, wo ich als Gast in dem Strohdachhaus des realen Exil-Dichters Bertolt Brecht mich u.a. mit einem 1996 verstorbenen, dänischen Aphoristiker beschäftigen werde, der in seinem eigenen Land und sogar in den USA weltberühmt war, aber in Deutschland gänzlich unbekannt. Im letzteren Fall ist er aber nicht in Deutschland gescheitert, sondern die deutsche Geschichte an seinen hohen ethischen Standards.
+Jan Wagner „Die Eulenhasser in den Hallenhäusern – Drei Verborgene – Gedichte“ (Gedichte)
© 2012 Hanser Berlin, 128 Seiten, gebunden, 14,90 €
Den Titel für meinen Artikel habe ich auf einer Wand in der Film+Video-Ausstellung „Besser Scheitern“ in der Hamburger Kunsthalle gesehen. Er stammt, wenn ich recht erinnere, von Wilhelm Genazino. Aber auch Beckett wird zitiert und Richard Sennet: www.hamburger-kunsthalle.de
Bas Jan Ader Fall 2, Amsterdam, 1970 (Dokumentation)
© Mary Sue Ader Andersen Bas Jan Ader Estate at the Patrick Painter Gallery
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In letzter Zeit ist der Fokus auf dem Scheitern statt auf dem Erfolg fast schon eine Dille, aber mit eingeläutet hatte das in Deutschland der Chef-Scout für Tendenzen, Hans Magnus Enzensberger, mit seinem Buch „Meine schönsten Flops“; zwar erst spät, 2011, aber in seinem Alter dennoch recht beachtlich. Vielleicht brechen sich bei Enzensberger nun die heranbrausenden Trendwellen sanft an der Altersmilde.
Wer es in den nächsten Monaten bis in die Hamburger Kunsthalle schafft, sollte auch noch weiter bis zu den Deichtorhallen gehen und dort die wirklich großartige Ausstellung des Erfolgsverweigerers, oder sagen wir, des stets scheiterbereiten 72 jährigen Konzeptkünstlers Hans-Peter Feldmann anschauen. Bei ihm steht – neben dem Elixier Humor - eine weiteres Element der Kunst im Vordergrund: Das Spiel!. Das sollten auch Lyriker sich nicht verbieten. Es kann Leben retten - oder einen Tag.
Letzte Lyrik – Karfreitag 2013 © Andreas Greve, Hamburg
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