Moustapha

von Karl Otto Mühl

Moustapha
 
Ich spüre es noch auf dem Weg zur Bäckerei. Wirklich, ich kann mir keinen großen Unterschied vorstellen. Da ist nicht nur die Welt überdeutlich um mich herum: Asphalt, schnurgerade Hecken, das Licht spiegelnde Fensterscheiben, freundlich herabgrüßende, weiße Wölkchen über mir, schlanke, vorbeieilende Läuferinnen – nein: das ist gestern und heute und alles zusammen; der runde Brocken Erde, der durchs Weltall driftet, die längst verstorbenen Tanten, die mit kummervollen Gesichtern beklagen, daß ihr Bruder im Krieg ein so einsames Sterben hatte ...
Sie alle sind mir jetzt gleichzeitig nahe. Ich brauche nur von einem zum anderen zu blicken. Die Heerschar von verstorbenen Verwandten: sie treten als Gerippe aus den Zimmern, begegnen mir in Fluren, blicken mich trotz leerer Augenhöhlen freundlich und eindringlich an. Wie konntest du uns nur so lange übersehen, sagen sie. Wir sind doch eine ganze Menge. Und du merkst es erst spät, wie eng wir verbunden sind. Da steckt mehr hinter der Blutsverwandtschaft, als wir wahrhaben wollen.
In der Bäckerei brummelt fröhliche Stimmung. Die Hauptbäckerin hat Geburtstag und spendiert Kaffee und Brötchen. Freund Hermann ist eingetroffen und präsentiert ihr als Geschenk ein Buch mit Cartoons. So etwas hat man der Hauptbäckerin bisher noch nie geschenkt, sie fängt sofort an, fasziniert darin zu blättern.
Zur Überraschung der Hauptbäckerin hat Hermann einen afrikanischen Freund mitgebracht. Er heißt Moustapha und spricht erstaunlich gut Deutsch. Was man über Afrika wisse, hat er uns gefragt. Was der Kolonialismus mit den Afrikanern gemacht habe? Daß es gut sei, bei der Antrittsvorlesung in einer afrikanischen Universität eine Brille zu tragen, sagt er, aber beileibe nicht solche Zöpfe, wie er sie habe. Er trägt nämlich sein Haar in Zöpfen, die bis an die Hüften reichen.
Hereinkommende Kunden tun ganz selbstverständlich, so, als ob es ganz normal wäre, einen Moustapha aus Senegal in ihrer Mitte zu haben.
Stammgäste sind hereingekommen. Sie mustern unseren Moustapha mißtrauisch. Der steht jetzt mit gesenktem Kopf schweigend zwischen uns.
Schließlich müssen Hermann und sein afrikanischer Freund gehen.
„Hätten die sich auch nicht vorgestellt, hier mit so wenig zurechtzukommen. Wahrscheinlich Hartz IV.“
Jemand wirft schüchtern ein, die Farbigen hätten es trotzdem schwer, hier zurechtzukommen.
„Und so viele Frauen, wie sie gewohnt sind, dürfen sie hier längst nicht haben. Der wird dumm geguckt haben, als man ihm das sagte“, meint ein anderer.
Eine Frau sei bei Weitem genug, fügt der Textilingenieur hinzu. Er habe sich schon immer gewundert, wie die Moslems das bewältigten. Überhaupt, zu viele von ihnen sollten besser nicht kommen.
„Ihr macht Euch über solche armen Leute lustig“, empört sich die Bäckerin. „Die haben ihr Kratzen. Ihr solltet sie in Ruhe lassen.“
„Wahrscheinlich ist er froh, wenn er von der Sozialhilfe seine Kinder satt kriegt. Arbeit kriegt er hier wohl kaum“, meint der Vater mit den sechs unehelichen Kindern.
Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo ich die Dinge gerade rücken kann. „Moustapha ist Professor in Münster“, sage ich.
Für einen Augenblick herrscht Schweigen in der Runde.
Dann sagt der uneheliche Vater: „Warum auch nicht!“



© 2013 Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern